Stuttgarter Zeitung Nr. 295, 20.12.2013, S. 18
Der neue Blick auf die Entstehung von Krebs
Onkologen denken derzeit um: Nicht nur Mutationen bestimmen das Geschehen in den Krebszellen sondern auch Störungen bei der Regulation der Gene. Das könnte auch erklären, warum manche Lebensmittel das Tumorrisiko senken können.
Von Peter Spork
Dass Krebs durch genetische Veränderungen in Zellen entsteht, durch sogenannte Mutationen, ist heutzutage Schulwissen. Doch das scheint nur ein Teil der Wirklichkeit zu sein. Erkenntnisse der jungen Wissenschaft der Epigenetik bringen immer deutlicher ans Licht, dass es auch systematische Störungen der biochemisch gespeicherten Genregulation sein können, die diese besonders bösartig machen. Solche Veränderungen werden Epimutationen genannt. Diese betreffen Markierungen, die an oder nahe bei den Genen sitzen, etwa die Anlagerung einer chemischen Verbindung – einer Methylgruppe – direkt an das Erbgutmolekül DNA. Die Methylgruppen können sich auch an eines der sogenannten Histon-Eiweiße anlagern, um die sich die DNA mal mehr, mal weniger fest im Zellkern aufwickelt.
Diese Markierungen kann die Zelle selbst mit Hilfe von Enzymen verändern. Damit verändert sie die räumliche Struktur des DNA-Eiweiß-Gemischs – und letztlich gezielt die Aktivierbarkeit eines bestimmten Gens. Als zusätzliches epigenetisches Schaltersystem erzeugt die Zelle kleine Botenmoleküle – sogenannte nicht kodierende RNA –, die gezielt die Übersetzung der in einem Gen gespeicherten Information in den Bau eines Eiweißes behindern können.
Wird auf einem dieser epigenetischen Wege ein Gen unterdrückt, das den Bauplan für eine Substanz enthält, welche die Zelle vor der bösartigen Entartung schützt, erhöht sich das Krebsrisiko. Denkbar ist aber auch, dass eine epigenetische Markierung ein Gen, das Krebs fördernde Substanzen kodiert, vom inaktiven Zustand auf aktivierbar umschaltet – und schon wird die Zelle in Richtung Krebs „umgestellt“.
Krebsforschern aus den USA ist jetzt ein erstaunlich tiefer – und leider auch entsprechend komplizierter – Blick in die epigenetische Reaktionskaskade bei der Entstehung aggressiver Brustkrebszellen gelungen. Einem Bericht im Fachmagazin „Cell“ zufolge verpflanzten Su Jung Song und Kollegen menschliche Brustkrebszellen in Mäuse und untersuchten den Einfluss einer epigenetisch aktiven Botenmoleküls, dessen wichtige Rolle bei Brustkrebs schon länger bekannt war: die Mikro-RNA Nummer 22 (miR-22).
Zunächst zeigte sich, dass miR-22 die Krebszellen besonders aggressiv macht. Dann fanden die Forscher heraus, was dabei genau geschieht: Die Mikro-RNA scheint die Übersetzung von Genen aus der sogenannten TET-Familie zu behindern. Diese helfen der Zelle dabei, Gene oder Codes für wieder andere epigenetisch aktive Botenmoleküle zu aktivieren, indem sie Methylgruppen von der DNA entfernen. Eines der Ziele der TETs ist die sogenannte Aktivierungssequenz der Mikro-RNA Nummer 200. Und diese miR-200, die letztlich durch die miR-22 über die beschriebene Kaskade gehemmt wird, ist ein regelrechter Gutartigkeitsbote. Sie unterdrückt Faktoren, welche die Metastasierung der Zelle befördern und diese aggressiv machen.
Zu den Ergebnissen passt die Beobachtung, dass sich die Krebszellen durch eine Aktivierung der TET-Enzyme in Richtung Gutartigkeit verstellen lassen. Dasselbe lässt sich auch mit einer pharmakologisch wirksamen Substanz bewirken, die Methylgruppen abbaut und so letztlich die Arbeit der unterdrückten TETs übernimmt. Zudem zeigten die Forscher, dass Krebspatienten, deren Zellen viel miR-22 erzeugen, besonders schlechte Prognosen haben.
Dass die Epigenetik aber nicht nur die Biochemie des Krebses durchleuchten hilft, sondern auch erklären kann, warum manche Lebensmittel eventuell das Risiko einer Krebserkrankung senken können, zeigt eine weitere Studie. Schon länger ist bekannt, dass die in Sojabohnen enthaltene Verbindung Genistein die Epigenetik von Zellen verstellen kann. Soja und Sojaprodukte wie Tofu galten deshalb schon länger als potenzieller Bestandteil einer präventiven, vor Krebs schützenden Nahrung.
Jetzt haben Ernährungsforscher um Yukun Zhang aus den USA diese These in Experimenten mit Ratten eindrucksvoll untermauert, über die sie im Fachblatt „Carcinogenesis“ berichten. Sie fütterten Ratten zeitlebens mit einer an Genistein reichen Kost. Dann gaben sie einigen Tieren eine Krebs erregende Substanz und fütterten anschließend nur die Hälfte dieser Ratten weiterhin mit Sojaprodukten. Am Ende analysierten sie in den Darmzellen aller Tiere die Aktivität dreier Gene, die an der Bildung eines Krebs fördernden Botenstoffs namens Wnt beteiligt sind.
Bei den Ratten, die normales Futter erhielten, stieg die Aktivität dieser Gene an. Bei den Nagern, die weiterhin viel Genistein erhielten, blieb sie dagegen auf dem Niveau jener Tiere, die gar nicht erst „vergiftet“ worden waren. Die molekularbiologische Analyse der Darmzellen ergab, dass das Genistein bei den vergifteten Zellen gleich an mehreren epigenetischen Schaltern gedreht hatte. Die Histon-Eiweiße waren verändert, und die DNA war an einigen Stellen stärker mit Methylgruppen versehen. Dadurch war das Krebs fördernde Wnt-Signal – und damit vermutlich auch die Krebsgefahr – anders als bei den anderen vergifteten Tieren nicht erhöht.
Noch handelt es sich bei diesen Experimenten um Tierversuche, deren Übertragbarkeit auf den Menschen immer angezweifelt werden muss. Doch sie bestätigen erneut, dass die moderne Krebsforschung an der Epigenetik nicht mehr vorbeisehen kann. Vielleicht findet sich nun sogar ein Geldgeber für eine seriöse Untersuchung, die der Frage nachgeht, ob Menschen, die mehr Soja essen, tatsächlich seltener an Darmkrebs erkranken.
© Peter Spork