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Stuttgarter Zeitung, 25. Januar 2010, S. 16

Den Krebs einfach abschalten

Krebstherapie kommt durch Epigenetik einen großen Schritt weiter. Hoffnung für Blutkrebskranke.

Von Peter Spork

Die Diagnose MDS wünscht man auch seinen ärgsten Feinden nicht. Hinter dem Kürzel versteckt sich eine Gruppe sehr ähnlicher und fast immer tödlich verlaufender Blutkrebserkrankungen, die Myelodysplastischen Syndrome. Etwa viertausend Menschen in Deutschland erkranken jedes Jahr neu an diesen Leiden. Im Durchschnitt sind sie 70 Jahre alt. Und es sind mehrheitlich Männer. Bei dem Leiden entarten blutbildende Stammzellen des Knochenmarks. Sie erzeugen dann nur noch funktionsunfähige Blutzellen. Die Patienten werden schwach und blutarm. Besonders düster sind die Prognosen beim sogenannten Hochrisiko-MDS, das ein knappes Drittel der Betroffenen aufweist: Nur sehr wenige dieser Patienten sind so rüstig, dass sie sich auf eine potenziell heilende Transplantation der Knochenmarkstammzellen einlassen können. Die anderen entwickeln binnen kurzer Zeit einen schweren Blutkrebs, Akute Myeloische Leukämie (AML) genannt. Innerhalb von 15 Monaten stirbt die Hälfte der Patienten trotz Behandlung. Nach zwei Jahren sind sogar drei Viertel tot.

“Epigenetische Veränderungen sind theoretisch umkehrbar, genetische kaum.”
(Moshe Szyf, Epigenetiker, Universität Montréal)

Zu den großen Rätseln von MDS und AML gehört die Vielfalt dieser Krankheiten. Die Ärzte können die verschiedenen Untergruppen bisher kaum auseinanderhalten. Doch jetzt fanden Hämatologen um Ari Melnick aus New York ein greifbares Unterscheidungsmerkmal: sie analysierten das Erbgut der Krebszellen von 344 AML-Patienten und entdeckten 16 verschiedene Typen. Variabel waren dabei die Stellen, an denen einzelne Gene durch sogenannte Methylgruppen, die an das Erbmolekül DNA angelagert waren, dauerhaft stumm blieben (Quelle: Cancer Cell Band 17, Online-Vorabdruck).

Damit gerät wieder einmal eine völlig neue Art der Krebstherapie in den Blickpunkt, auf die Onkologen derzeit sehr große Hoffnungen setzen: die epigenetische Therapie. Sie versucht, sogenannte epigenetische Veränderungen der Krebszellen rückgängig zu machen. Und die Methylgruppen, die Melnick und seine Kollegen ins Visier genommen haben, gehören zu den allerwichtigsten dieser epigenetischen Riegel.

Neues Medikament zugelassen

Wie vielversprechend der epigenetische Ansatz in der Krebstherapie ist, zeigt ein Medikament, das seit Anfang vergangenen Jahres in der EU zugelassen ist. Es entfernt die Methylriegel vom Erbgut der Krebszellen und macht sie damit wieder ein Stück gutartiger. Nach einer Studie aus dem Jahr 2009 verbessert dieser Ansatz die Prognose deutlich. Werden Hochrisiko-MDS-Patienten mit dem Wirkstoff 5-Azacitidin behandelt, lebt die Hälfte von ihnen mindestens noch zwei Jahre. Das sind etwa neun Monate länger als bei den herkömmlichen Therapien. Und es sind doppelt so viele Menschen, die dank des Mittels den zweiten Jahrestag der tragischen Diagnose noch erleben (Lancet Oncology Bd. 10, S. 223).

Diese Resultate seien eindrucksvoll, kommentiert im gleichen Blatt auf Seite 200 der Leukämieexperte Guillermo Garcia-Manero vom Krebszentrum in Houston, USA : “Die Daten etablieren Azacitidin als Standardmedikament für Patienten mit Hochrisiko-MDS.”

Das Mittel gibt es zwar schon lange, es wurde früher aber in hochdosierter Form als gewöhnliches Zellgift eingesetzt. Jetzt dosieren es die Ärzte viel geringer und geben es über einen längeren Zeitraum. Denn sie haben entdeckt, dass es unter diesen Bedingungen ungleich zielgenauer und effektiver wirkt: Es verhindert, dass Enzyme während der Zellteilung neue Methylgruppen an die DNA anlagern.

Damit macht das epigenetische Medika-ment einen Vorgang rückgängig, den Forscher schon länger als wichtigen Begleiter der Krebsentstehung sehen: Die Methylriegel schalten bei Krebszellen Gene stumm, die sie eigentlich vor der Bösartigkeit bewahren sollen. Sie werden Tumorsuppressorgene genannt. Bei vielen Krebsarten inklusive MDS ist jedenfalls bekannt, dass je mehr “gute” Gene per Methylierung stumm geschaltet sind, desto aggressiver und weiter fortgeschritten das Karzinom ist.

Mit der Erforschung der DNA-Methylierung und anderer sogenannter epigenetischer Schalter, die unseren Zellen ihre Identität verleihen, beschäftigt sich der neue Forschungszweig der Epigenetik. Die große Hoffnung ist, dass es mit Stoffen, die solche Schalter verändern, eines Tages gelingt, Krebszellen möglichst gezielt umzuprogrammieren. Dann würden diese sterben oder könnten zumindest weniger bösartig sein. Sie wären damit für herkömmliche Medikamente besser anzusteuern.

Anders als früher denken Experten heute nämlich nicht mehr, Krebs entstehe ausschließlich dann, wenn die Gene einer Zelle krankhaft verändert sind. Krebs kann Folge einer epigenetischen Veränderung sein. Die Zellen werden in diesem Fall bösartig, weil biochemische Schalter “böse” Gene an- oder “gute” Gene ausgeschaltet haben. Für diese Theorie sprechen Ari Melnicks neuen Daten zur Untergruppierung der AML. Und sie sind eine logische Folge der Studien von Frank Rosenbauer vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. Sein Team konnte erst kürzlich zeigen, dass epigenetische Veränderungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung gefährlicher Blutkrebsstammzellen spielen (erschienen in: Nature Genetics, Band 41, Seite 1207).

Der in Montréal forschende israelische Epigenetiker Moshe Szyf ist längst überzeugt: “Die Epigenetik spielt die wichtigste Rolle bei der Entstehung von Krebs. Die meisten Karzinome sind epigenetische Krankheiten.” Das Gute an dieser Erkenntnis sei: “Epigenetische Veränderungen sind theoretisch umkehrbar.” Genetische Veränderungen seien dies hingegen kaum. Deshalb sagt auch Jörn Walter, Genetiker von der Universität des Saarlands: “In der Krebstherapie wird die Epigenetik sicherlich viel bewegen.”

Die Epigenetik ist ein noch junges Forschungsfeld

Es sei nicht zuletzt die Krebsforschung, die das junge Forschungsfeld Epigenetik in den letzten Jahren vorangetrieben habe, sagt ein weiterer führender deutsche Genetiker, Bernhard Horsthemke von der Universität Essen: “Gemeinsam mit anderen Entdeckungen hat die Tumorepigenetik unserer Wissenschaft zum Durchbruch verholfen.” Er hat schon im Jahr 1989 belegt, dass manche Formen sogenannter Retinoblastome – das sind bösartige Tumore in der Netzhaut des Auges – entstehen, weil ein bestimmtes Gen durch angelagerte Methylgruppen stumm geschaltet ist.

Das wiederentdeckte Medikament gegen MDS zeigt inzwischen, wie eine epigenetische Krebstherapie funktionieren kann. Es ist zudem nicht das einzige Mittel dieser Art: In den USA ist auch noch Decitabin zugelassen, das ganz ähnlich arbeitet. Und es gibt bereits ein Medikament, das das zweite große epigenetische Schaltersystem neben den Methylierungen verändert: die Stärke, mit der sogenannte Histon-Eiweiße den DNA-Faden um sich aufwickeln und damit mehr oder weniger gut ablesbar machen. Auch dieses Mittel, die Valproinsäure, ist ein altes, schon lange zugelassenes Medikament. Es wurde früher wegen seiner Auswirkung auf das Nervensystem gegen Epilepsie eingesetzt. Heute weiß man, dass es auch den epigenetischen Code verändert und setzt es mit einigem Erfolg zum Beispiel gegen MDS im Frühstadium ein. Als vierter Stoff in der noch sehr jungen Medikamentenfamilie ist in den USA Vorinostat gegen sogenannte kutane Lymphome zugelassen. Auch dieses Mittel verändert die Beschaffenheit der Histone.

Noch ist die Zahl der epigenetischen Krebsmedikamente also überschaubar. Aber das dürfte sich schon bald ändern. Seit einigen Jahren forschen nahezu alle großen Pharmafirmen an ähnlichen Substanzen. Viele arbeiten inzwischen mit einer Reihe hoffnungsvoller Entwicklungskandidaten. Der Pharmakologe und Epigenetiker Moshe Szyf könnte also mit seiner derzeit noch sehr optimistisch klingenden Prognose recht behalten: “Der epigenetische Weg ist der Weg, der in die Zukunft der Krebstherapie führt.”
© Peter Spork

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