Frankfurter Rundschau 3. Mai 2008, S. 14/15
Gehirn in Unordnung
Schlafwandeln bedeutet, dass in der Schaltzentrale etwas in Unordnung ist
Von Peter Spork
“Es hätte auch viel schlimmer kommen können.” Oder: “Das war Glück im Unglück.” Solche Sätze sagen Eltern von Schlafwandlern oft. Auch der Vater, der sich an den schweren Sturz seines Sohnes erinnert: “Kurz vor dem Abitur übernachtete Markus bei seiner Freundin. Er schlief auf einem ausgebauten Dachboden, den vom Treppenhaus leider nur das Geländer trennte. Als Markus in der Nacht schlafwandelte, stürzte er eine Etage tiefer.” Der Junge fiel fast drei Meter, kam aber wie durch ein Wunder mit ein paar Knochenbrüchen davon. Er verpasste noch nicht einmal seine Prüfungen.
Dass der Junge seine Attacke gerade im Prüfungsstress bekam, der ihm in den vorausgegangenen Wochen sicher viel Schlaf geraubt hatte, passt gut zu einer aktuellen Studie kanadischer Neurologen: Antonio Zadra und Kollegen von der Universität Montreal zeigten, dass übermüdete Menschen eher schlafwandeln als ausgeschlafene. Die Forscher ließen 40 vermeintliche Schlafwandler 25 Stunden nicht schlafen.
Im anschließenden Erholungsschlaf traten bei 36 Probanden insgesamt 92 Schlafwandelattacken auf. In einer Probenacht vor dem Schlafentzug wandelte dagegen nur die Hälfte der Testpersonen insgesamt 32 Mal (Annals of Neurology, März 2008). Zwar ist schon länger bekannt, dass Schlafmangel den so genannten Somnambulismus begünstigt, so eindrucksvoll und bei so vielen Patienten wie in der aktuellen Studie wurde das bisher aber noch nicht belegt.
Zadra und Kollegen hoffen, Somnambulismus in Zukunft dank Schlafentzug leichter diagnostizieren zu können. Das bislang von den Schlafwissenschaften eher stiefmütterlich behandelten Leiden eindeutig zu erkennen, ist nämlich gar nicht so einfach. Bislang mussten Ärzte Schlafwandler allzu oft unverrichteter Dinge nach Hause schicken, weil während der Testnacht nichts Auffälliges passiert war. Ein vorheriger Schlafentzug sei ein “brauchbares Werkzeug”, um die Wahrscheinlichkeit einer Schlafwandelattacke gezielt zu erhöhen, schreiben die Kanadier.
Schlafwandler leben gefährlich – und sie brauchen einen Schutzengel. Denn von der sprichwörtlichen “schlafwandlerischen Sicherheit” kann keine Rede sein. “Ihnen fehlt die Angst vor gefährlichen Situationen und sie bewegen sich unsicherer als wache Menschen”, sagt Dieter Kunz, Leiter der Abteilung für Schlafmedizin im St. Hedwig-Krankenhaus, Berlin.
Auch dass der Abiturient Markus in fremder Umgebung stürzte, ist typisch. Schlafwandler sind anfälliger, wenn Bett und Zimmer nicht vertraut sind, weil dort kleine, die Attacke auslösende Störungen wahrscheinlicher sind. Markus ist für einen Schlafwandler je-doch recht alt: “Über ein Drittel aller Kinder schlafwandeln bis zur Pubertät mehr oder weniger häufig und mehr oder weniger ausgeprägt”, sagt Kunz. Mit dem Erwachsenwerden verschwinde der Spuk fast immer.
Im Alter von mehr als 30 tritt das Leiden – streng definiert – nur noch bei einem Prozent der Bevölkerung auf: “Schlafwandeln ist exakt, was es heißt: Wandeln im Schlaf, also das gelegentliche Aufstehen und Umhergehen bei abgeschaltetem Wachbewusstsein”, sagt Claudio Bassetti, Schlaflaborleiter und Vizedirektor der Neurologischen Klinik des Zürcher Universitätsspitals.
Die meisten der erwachsenen Betroffenen wandelten bereits als Kind. Ein Teil ihrer Veranlagung scheint geerbt zu sein. Nur ganz selten tritt das Schlafwandeln zum ersten Mal im Erwachsenenalter auf. Dann sollte man rasch zum Arzt gehen und muss meist eine Nacht im spezialisierten Schlaflabor verbringen. Bestätigt sich die Diagnose, beginnt die Suche nach dem Auslöser: “Schlafwandeln ist nur ein Symptom, so wie Kopfschmerzen. Es zeigt uns, dass irgendetwas im Gehirn nicht in Ordnung ist”, erklärt Bassetti.
Deshalb sind die Attacken bei Kindern so häufig. Ihr Gehirn entwickelt sich noch, ist nicht ausbalanciert. So kann es passieren, dass das Wachbewusstsein ausgeschaltet bleibt, obwohl Gehirnregionen aufwachen, die Bewegungen steuern. Nun erheben sich Schlafwandler mit starrem Blick, gehen umher, öffnen womöglich Türen und Fenster, setzen sich im Extremfall an den Schreibtisch und schalten den Computer an, oder steigen ins Auto, mit dem sie jedoch höchstens bis zur nächsten Mauer kommen. Ihre Arme strecken Schlafwandler übrigens nicht nach vorne.
“Das ist Quatsch”, sagt Bassetti. Auch Lichtquellen steuerten sie nicht an. Es könne aber sein, dass ein heller Mond Schlafwandeln begünstigt, weil das Licht den Schlaf insgesamt etwas beeinträchtige.
Springt zusätzlich das Appetitzentrum im Gehirn an, beißen Betroffene schon mal in eine verpackte Tafel Schokolade oder verschlingen dreckiges Obst. Somnophagie, Schlafhunger, nennen das die Experten. Werden stattdessen Angstzentren aktiv, ereilt die Schläfer der so genannte Nachtschreck, Pavor Nocturnus. Sie setzen sich auf und schreien panikartig. Auch solche Störungen sind bei Kindern besonders häufig und verschwinden mit der Pubertät fast immer. Wie Schlafwandler können sich Betroffene am nächsten Morgen an nichts erinnern, noch nicht einmal wie an einen Traum.
Träume kommen als Auslöser der Episoden ohnehin nicht infrage, weiß Claudio Bassetti: “Schlafwandeln findet immer im Tiefschlaf statt, und da träumt man nur sehr bruchstückhaft.” Weil wir fast nur im ersten Schlafdrittel in den Tiefschlaf gelangen, wandelt man auch nur dann. Wer spät in der Nacht oder am frühen Morgen herumgeistert, hat eher eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung, also eine Störung jener Schlafphase, in der man träumt: Anders als Schlafwandler kann man diese Menschen leicht wecken und sie erinnern sich später recht gut an das Geschehene, das ihnen nicht von ungefähr wie geträumt vorkommt. Sie leben tatsächlich Träume aus, so dass es auch viel häufiger als beim Schlafwandeln zu absurden Handlungen oder aggressiven und sexuellen Übergriffen kommt.
Immer öfter berufen sich Beschuldigte vor Gericht darauf, ihre Straftat in Wahrheit im Schlaf begangen zu haben. Ein Dilemma für viele Richter und eine knifflige Aufgabe für die Schlafmediziner, die dann per Gutachten klären müssen, ob die Beschuldigten tatsächlich eine Schlafstörung haben.
Dabei achten die Ärzte vor allem auf das Hirnstrommuster der Patienten. Sie wissen: “Wenn Schlafwandeln im Alter neu auftritt, dann passiert irgendetwas im Gehirn, und das passiert nicht einfach so”, sagt Dieter Kunz. Verantwortlich könnten bestimmte Medikamente wie Antidepressiva, Benzodiazepine oder Lithium sein sowie illegale Drogen aller Art. Auch extremer Schlafmangel, übermäßiger Alkoholkonsum oder Alkoholentzug begünstigten das Leiden. Manchmal sei die ungewollte Aktivität im Schlaf sogar ein erster Hinweis auf Hirnerkrankungen wie eine Epilepsie, Morbus Parkinson oder einen Hirntumor.
Zunächst bekämpfen Ärzte solche Grunderkrankungen. Ansonsten können Medikamente helfen, etwa Clonazepam, Melatonin oder Antidepressiva, und gezielter Stressabbau wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung sowie die Einhaltung allgemeiner Schlafhygiene-Regeln: etwa, abendlichen Koffeinkonsum zu meiden, auf eine gemütliche Schlafzimmeratmosphäre zu achten und an regelmäßige Schlafzeiten zu denken.
Am wichtigsten sind Sicherheitsmaßnahmen: “Türen und Fenster geschlossen halten, Stolperfallen und gefährliche Gegenstände entfernen”, rät Dieter Kunz. Und wenn das nicht reicht? “Ultima ratio ist das Festschnallen oder Lichtschranken anzubringen, die Angehörige im Nachbarzimmer wecken.” Die sollen den Schlafwandler dann sanft und ruhig ins Bett geleiten, ihn jedoch niemals rütteln oder anschreien. Wecken lässt er sich ohnehin kaum. Stattdessen kann er unbewusst aggressiv werden.
Der Zürcher Bassetti warnt davor, das Schlafwandeln auf die leichte Schulter zu nehmen. “Allein hier in der Schweiz gibt es jährlich Todesfälle.” Besondere Gefahr drohe, wenn Schlafwandler auf Berghütten übernachteten. “Wer schlafwandelt, gilt hierzulande als Militärdienstunfähig.” Solange die Existenz von Schutzengeln also noch nicht eindeutig bewiesen ist, müssen Angehörige weiter vorbeugen.
© Peter Spork