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Die Zeit, 15. Juli 1999, S. 37

Tragödie im Gelenkspalt
Neue biotechnische Medikamente lassen Patienten mit rheumatoider Arthritis hoffen

Von Peter Spork

Es beginnt in den Fingern und Zehen, dann schmerzen Knie, Schultern und Hüfte. Jahrzehntelang frisst sich die unheimliche Entzündung durch Gelenkhäute und Knorpel, verformt Gliedmaßen und raubt schließlich jede Beweglichkeit. Bei der rheumatoiden Arthritis, im Volksmund Rheuma, richten sich Zellen des Immunsystems gegen die eigenen Gelenke. Noch ist sie unheilbar – und doch beginnen Ärzte und Naturwissenschaftler zu verstehen, wodurch diese selbstzerstörerischen Autoimmunreaktionen ausgelöst werden.

Nach Jahrzehnten des therapeutischen Stillstands eröffnen sich Perspektiven, die verbreitete Krankheit wirksamer und gezielter denn je zu behandeln. Dank molekularbiologischer Fortschritte ist eine Reihe neuer Medikamente entwickelt worden. Zelltherapeuten melden bereits erste Erfolge: Sie waschen jene Zellen aus dem Blut, die das Rheuma auslösen – mit ihnen allerdings auch nützliche Zellen.

Japanische Forscher dagegen glauben ein Eiweißmolekül gefunden zu haben, welches das Fortschreiten des Rheumas bremsen könnte. Die Ärzte spritzten Ratten das Gen für das Molekül in die rheumatischen Kniegelenke und linderten dadurch offenbar die Beschwerden. Das könnte, schreiben sie in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Nature Medicine (Bd. 5, S. 760) “ein neuer Ansatz für die effektive Behandlung rheumatoider Arthritis” sein.

Die auch chronische Polyarthritis genannte Krankheit befällt am häufigsten Menschen zwischen 20 und 45 Jahren, Frauen trifft es dreimal häufiger als Männer. Dass das Leiden oftmals als Rheuma bezeichnet wird, führt zu Missverständnissen. Denn hinter dem Überbegriff verbergen sich 400 unterschiedliche Formen: verschlissene Gelenke (Arthrose), Kristallablagerungen im Gelenk (Gicht) oder etwa die Fibromyalgie, bei der das Bindegewebe aus bisher unbekannten Gründen schmerzt.

Den bundesweit etwa 800 000 Patienten mit rheumatoider Arthritis verordnen Ärzte bisher Medikamente, die Schmerzen dämpfen, das Immunsystem blockieren und Entzündungen hemmen – die Standardherapie hat viele Nebenwirkungen und hilft nicht immer. Wird das Rheuma schlimmer, schneiden Operateure sogar Gelenkhäute heraus, versteifen chirurgisch Gliedmaßen oder implantieren Kunstgelenke.

Allerdings kombinieren Ärzte die herkömmlichen Mittel weit effektiver als früher. Deshalb und auch wegen der neuen Einblicke in die Molekularbiologie des Gelenk-Leidens sprach das Fachblatt MMW – Fortschritte der Medizin vor kurzem sogar von einer “Rheumarevolution”. Der Begriff scheint zwar ein wenig zu hoch gegriffen, doch profitieren schon heute Patienten von den Fortschritten. Die 45 Jahre alte Gabriele Brieden hat seit ihrer Kindheit Rheuma, nun nimmt sie an einer neuen klinischen Studie teil. Zuvor war sie so krank, dass sie ihre Zahnarztpraxis aufgeben musste. Sie habe “so ziemlich alle Therapien mitgemacht”, sagt sie. Seit eineinhalb Jahren sind ihre Laborwerte jedoch “so gut wie seit 20 Jahren nicht mehr”. Der Rollstuhl steht in der Ecke. Grund für die Besserung ist ein gentechnisch hergestelltes Medikament mit dem Laborcode D2E7, das Gabriele Brieden erhält.

Das Mittel gehört zu einer Gruppe neuartiger Substanzen, die einen zentralen Botenstoff in der zerstörerischen Kaskade der Autoimmunreaktion blockieren: den Tumornekrosefaktor (TNF). Die TNF-Blocker unterbinden präziser als die herkömmlichen Mittel die Gelenkentzündung und wirken meist gerade dann, wenn ihre Vorgänger versagen.

Zwei andere Blocker kommen aus den Vereinigten Staaten. Enbrel ist in den USA bereits als Rheumamedikament zugelassen. In Europa kommt es vermutlich noch dieses Jahr auf den Markt. Remicade dürfen hiesige Ärzte schon heute bei der chronischen Darmentzündung Morbus Crohn verschreiben, bei Rheuma voraussichtlich im Jahr 2000. Der Stoff mit dem Kürzel D2E7 wird länger auf sich warten lassen.

“Die Wirkung der drei Mittel ist vergleichbar”, sagt Joachim Kalden, Direktor der Medizinischen Klinik III in Erlangen, die Remicade testet. Und sie “ist auch über einen längeren Zeitraum außerordentlich beeindruckend”. Der Immunologe betont, dass sowohl Enbrel als auch Remicade besonders effektiv sind, wenn sie gemeinsam mit dem herkömmlichen Immunhemmer Methotrexat genommen werden.
Kalden warnt jedoch vor Euphorie: Erstens wirken die TNF-Blocker nur bei der Hälfte aller Patienten. Zweitens ist noch offen, welche Risiken die Medikamente langfristig bergen. TNF steuert neben der rheumatischen Entzündung viele andere Aktionen des Immunsystems. Die TNF-Blocker machen Patienten deshalb womöglich anfälliger für andere Krankheiten. In den bisherigen Studien sind diese Phänomene zwar nicht vermehrt aufgetreten, doch ist der Beobachtungszeitraum für eine Entwarnung noch zu kurz.

Rheuma heilen kann ohnehin keines dieser Mittel. Sie halten die Immunkrankheit nur auf und erlauben bestenfalls eine leichte Erholung der Gelenke. Werden sie abgesetzt, schlägt die Krankheit mit voller Wucht zurück.

Doch bei den Therapien sind die Forscher ein gutes Stück vorangekommen – was sich bei vielen Rheuma-Ärzten noch nicht herumgesprochen hat. “Zwischen den Ergebnissen der Grundlagenforschung und der klinischen Praxis klafft ein Loch von fünf bis zehn Jahren”, sagt Andreas Radbruch, Leiter des Deutschen Rheumaforschungszentrums (DRFZ) in Berlin. In vielen Praxen sei noch nicht bekannt, was als Optimum herkömmlicher Rheumabehandlung gilt: Wenn einzelne Mittel gar nicht anschlagen oder nicht mehr ausreichend wirken, hilft oftmals die Kombinationstherapie. Erstaunlicherweise potenziert der Einsatz mehrerer Arzneien den Effekt der einzelnen Präparate – ohne dass sich die Nebenwirkungen addieren.

“Einige meiner 46 kaputten Gelenke hätten gerettet werden können”, sagt Gabriele Brieden über eine zweite verkannte Form der Therapie. Dass eine ihrer Hüften, beide Knie und die Ellenbogen von schweren Eingriffen bisher verschont blieben, verdankt sie einer Verödung der Gelenkinnenhäute durch Strahlen. Gabriele Brieden hat erst spät von dieser Radio-Synoviorthese gehört (“Synovialis” nennen Mediziner die Gelenkinnenhaut).

Die Methode fristet seit fast drei Jahrzehnten ein Schattendasein, weil Ärzte sie kaum kennen und nur erfahrene Nuklearmediziner sie anwenden dürfen. Der Arzt spritzt dabei radioaktive Substanzen in die Gelenkhöhle. Die Strahlung zerstört die oberste Schicht der entzündeten Gelenkinnenhaut. “Das führt zu einer anhaltenden lederartigen Verschorfung der Gelenkhaut mit Abnahme der Schwellung, Wucherung und Schmerzempfindung”, erklärt Gynter Mödder, Nuklearmediziner aus Köln und Gründer der bundesweit ersten Spezialpraxis für ambulante Radiosynoviorthese. Die Angst vor Strahlenschäden sei unbegründet, sagt Mödder, denn die verwendete Betastrahlung sei schwach und baue sich schnell ab.

Der Berliner Immunologe Andreas Radbruch glaubt den Schlüssel zum erfolgreichen Kampf gegen das Rheuma im Immunsystem finden zu können: “Wir wollen die bis heute unbekannten krankmachenden Immunzellen aufspüren und sie ausschalten.” Radbruch ist überzeugt, dass eine “krankheitsauslösende Katastrophe” den Beginn des Rheumas markiert, “vermutlich die Infektion mit irgendeinem noch nicht entdeckten Krankheitserreger”.

Die große Frage lautete lange Zeit: Wieso können Immunzellen überhaupt aggressiv auf körpereigenes Gewebe reagieren? Jetzt haben Forscher aus Boston erste Antworten gefunden: Sie entdeckten Viren, die bei Versuchstieren eine Autoimmunkrankheit des Auges hervorriefen (Science , Bd. 279, S. 1344). Die Viren tarnen sich offenbar sehr geschickt: Auf ihrer Oberfläche tragen sie Moleküle, die jenen des Wirts ähneln. Wenn nun das tierische Abwehrsystem die viralen Oberflächenmoleküle bekämpft, dann richtet es seine Aggressivität zwangsläufig auch gegen eigene Organe.

Stimmt die Theorie von dieser sogenannten molekularen Mimikry, dann wäre Andreas Radbruch seinem ersten Ziel ein Stück näher, die autoaggressiven Immunzellen zu identifizieren. Er müsste die Viren mit ihrem Tarnkappenmolekül aufspüren und nach Immunzellen suchen, die sie vernichten. Doch er ist realistisch: “Meine Mitarbeiter haben auch Mimikrys gefunden, die keine Autoimmunkrankheit auslösten.”

Noch bleiben die Immunzellen, die die Tragödie im Gelenkspalt bewirken, im Verborgenen. Ärzte hindert das nicht, sie zu entfernen, allerdings per Schrotschussmethode. Sie haben bisher weltweit 150 Patienten Blut entnommen und Stammzellen herausgefiltert, aus denen alle Immunzellen des Menschen neu entstehen können. Im nächsten Schritt zerstört man mit Zellgiften das fehlgeleitete Immunsystem. Dann bekommen die Patienten ihre aufbereiteten Stammzellen zurück. Das Immunsystem formiert sich in den folgenden Monaten neu. Zwar ohne Impfschutz – aber auch ohne jene Zellen, die das körpereigene Molekül angreifen.

Diese Zelltherapie erproben Ärzte an der Berliner Charité gemeinsam mit dem DRFZ. Sieben Patienten mit verschiedenen Autoimmunkrankheiten wurden seit Januar vergangenen Jahres so behandelt. Alle sind bis heute gesund. “Unsere Paradepatientin hatte eine sehr schwere Knorpelentzündung”, sagt Radbruch. “Heute kann sie wieder Golf spielen.”
© Peter Spork

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