NDR Kultur, Gedanken zur Zeit, 29.01.2022, 13:00 h. Radioessay.
Vom Ende der Medizin und einem Leben in Gesundheit
Eine moderne Medizin, davon ist der Biologe und Wissenschaftsjournalist Peter Spork überzeugt, wird sich in Zukunft darauf konzentrieren, Gesundheit von vornherein zu erhalten.
Von Peter Spork
Tragen Sie Maske? Sind Sie geimpft? Halten Sie Abstand?
Die Corona-Pandemie hat uns und unser Leben von Grund auf verändert. Der Gedanke der Prävention ist alltäglich geworden. Unentwegt machen wir etwas oder lassen etwas anderes sein, mit dem Ziel, nicht krank zu werden und die Gesundheit anderer zu schützen. Wir versuchen, der Infektion voraus zu sein.
Dabei vertrauen wir auf die Erkenntnisse der Wissenschaft. Diese konnte nämlich messen, dass FFP2-Masken Corona-Viren fernhalten und Aerosole durch Lüften vertrieben werden. Sie hat es sogar geschafft, in erstaunlich kurzer Zeit einen sicheren und effektiven Impfstoff zu entwickeln. Und sie konnte mit Modellen vorherberechnen, wie sich die Pandemie wahrscheinlich entwickelt, wenn die Politik bestimmte Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung beschließt – oder auch nicht.
Damit handeln wir völlig anders, als wir es üblicherweise tun. Sind wir gesund, gehen wir Ärzt*innen aus dem Weg. Wir scheren uns wenig um diesen Zustand, der ja gar nicht das Gegenteil von Krankheit ist, sondern ein Prozess der Anpassung an das Leben. Krankheiten gehören zum Leben dazu. Unsere Gesundheit sollte es uns deshalb auch erlauben, gut mit einem chronischen Leiden oder dem Altern umzugehen. Und deshalb sollte eine echte Gesundheitsmedizin dem Leiden, dem Infekt, der Vernachlässigung, der Pandemie, der Einsamkeit immer einen Schritt voraus sein. Sie sollte wissen, was droht.
Die Erhaltung der Gesundheit
Die heutige Medizin ist jedoch zu allererst für die Therapie der Krankheiten und Behandlung der Symptome zuständig, nicht für die Erhaltung der Gesundheit. Es ist nur konsequent, dass unser Gesundheitssystem – das also genau genommen ein Krankheitssystem ist – Ärzt*innen und Krankenhäuser vor allem dann bezahlt, wenn sie uns heilen sollen. Die Prävention steht viel weniger hoch im Kurs. Dabei gilt es als Menschheitstraum, Krankheiten zu verhindern, bevor sie entstehen.
Nichts treibt die Naturwissenschaft mehr an, als das Leben und die Umwelt berechenbar zu machen. Der Astronomie gelang es schon im 16. Jahrhundert, die Bahnen der Planeten so genau zu vermessen und mit Hilfe von Differentialgleichungen vorherzusagen, dass sie in die Zukunft schauen konnte. Von da an wusste die Menschheit, wann Jupiter, Venus oder Saturn an welcher Stelle des Himmels erscheinen werden. Das System der Himmelskörper war mit Hilfe von Physik und Mathematik durchschaut. Algorithmen machten die Veränderungen der Planeten über die Zeit beschreibbar.
Eine wunderbare Vorstellung, gelänge das Gleiche mit der Biologie, mit dem System des Lebens. Es wäre das Ende der Medizin, wie wir sie heute kennen. Denn Ärzt*innen könnten vorausschauend handeln, sie könnten gemeinsam mit vielen anderen Berufsgruppen, etwa Psycholog*innen, Hebammen, Physiotherapeut*innen, Ernährungs- und Bewegungsberater*innen dafür sorgen, dass wir ein Leben in Gesundheit lebten.
Ungleichgewicht erkennen und das eigene System stabilisieren
Wenn im System des Lebens ein Ungleichgewicht entstünde, dann könnte eine kleine, präzise, nur an diesen Menschen in seinem speziellen soziokulturellen Umfeld und mit seinen ganz persönlichen Erfahrungen angepasste Intervention erfolgen. Das könnte ein bestimmtes Medikament sein, ein psychologisches Coaching oder eine Änderung der Ernährung, des Schlafes oder ein Bewegungsprogramm. Schon würde das biologische System dieses Menschen gefestigt, und die Krankheit wäre abgewendet bevor sie überhaupt entstehen konnte.
Klar ist das eine Utopie. Wir sind von ihr noch weit entfernt. Das Leben eines Menschen ist ungleich komplexer als die Bahnen der Planeten. Es dürfte darin so viele miteinander in Beziehung stehende Verknüpfungen, äußere wie innere Netzwerke und verborgene Muster geben, es wird wohl auf immer unmöglich bleiben, das Leben in seiner Gänze zu beschreiben. Außerdem sind die allermeisten Krankheiten sehr viel komplizierter als Infektionen wie zum Beispiel Covid-19.
Geht es um die häufigen Volks- und Zivilisationskrankheiten, um Leiden und Symptome wie Bluthochdruck, Allergien, Depressionen, Alzheimer, Krebs oder schlicht Rückenschmerzen, kennt die Wissenschaft in der Regel weder deren tief liegende, ursächlichen Mechanismen noch die Zusammenhänge ihres Entstehens im Netzwerk des Lebens.
Eine Jahrhundertaufgabe
Aber die biologische Grundlagenforschung ist dabei, die molekularen Strukturen der Biologie – die Gene, epigenetischen Schalter, Proteine, Botenstoffe – mitsamt ihrer Funktion akribisch aufzuklären. Es ist eine Jahrhundertaufgabe. Denn gleichzeitig beginnt sie, die Netzwerke immer besser zu verstehen, die die Zellen, Organe, Hormone, Nervensysteme und sogar die den Darm bewohnenden Bakterien eines Menschen miteinander knüpfen. Und sie findet gemeinsam mit der Psychologie, aber auch den Sozial- und Kulturwisssenschaften sowie der Ökologie heraus, wo die Schnittstellen liegen zwischen dem Netzwerk unserer Biologie und den Netzwerken unserer Umwelt.
Dieses neue Denken wird beispielsweise in Louisville, Kentucky, bereits umgesetzt: Dort hat man Gesundheitsdaten von Testpersonen ausgewertet und danach gezielt Straßen für den LKW-Verkehr gesperrt oder Parks angelegt, um an neuralgischen Stellen die Luftqualität zu verbessern. Die Zahl der Asthma-Attacken sank danach auf ein Viertel ab.
In einer anderen Studie werteten Forscher*innen mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz die Reaktion des Blutzuckerspiegels von 800 Menschen auf fast 50.000 Mahlzeiten und Snacks aus. Schließlich entwickelten sie einen erstaunlich gut funktionierenden Algorithmus zur persönlichen Ernährungsberatung.
Das Leben vermessen
Das Ziel: das Leben eines Individuums so umfassend wie möglich – aber auch wie nötig – zu vermessen und daraufhin mit Hilfe der Mathematik und moderner Computertechnik berechenbar zu machen. Dann könnte man mit Hilfe digitaler Zwillinge oder virtueller Avatare ein Abbild eines solchen Menschen erschaffen. Und mit diesem ließe sich ein Stück weit in die Zukunft schauen.
Als eine Art Gesundheits-Navigator könnte uns dieser digitale Zwilling dabei helfen, nach unseren ganz eigenen Regeln durchs Leben zu steuern und dennoch bewusst gesetzte Ziele zu erreichen. Neu ist das nicht. Schon heute weist uns das Navi im Auto zuverlässig und nach vorher selbst bestimmten Vorgaben den Weg. Nur die Ziele wären andere. Etwa, bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit zu bleiben. Oder einfach nur, das Leben zu genießen und dennoch wohlbehalten durchzukommen.
Die Wissenschaft, die hinter solchen Ideen steckt, ist die Systembiologie. Sie ist „das Vermessen und Berechnen des Lebens an einem bestimmten Moment und um diesen Moment herum“, sagt Nikolaus Rajewsky, Leiter des Berliner Instituts für medizinische Systembiologie. Derzeit ergründen seine Mitarbeiter*innen, wie einzelne Zellen ihre Gene auf individuelle Art regulieren, sie züchten künstliche Mini-Organe. Und sie nutzen sich selbst trainierende Algorithmen – eine Technik aus der Welt der Künstlichen Intelligenz – um verborgene Mechanismen des Lebens aufzuspüren.
Eine menschliche, sprechende, ganzheitliche Medizin
Letztlich versucht die Systembiologie, das Leben auf wissenschaftlicher Basis ganzheitlich zu begreifen. Eine Medizin, die darauf aufbaute, wäre menschlicher, sprechender und vielfältiger, als die heutige Medizin. Eigentlich wäre es gar keine Medizin mehr, sondern eine Art Gesundheitsbegleitung.
Ärzt*innen hätten wieder Zeit, uns zuhören und sich mit uns auf Augenhöhe zu unterhalten. Sie wären zudem Bestandteil eine Teams, das uns hilft, mit unvermeidbaren Leiden zu leben und vermeidbare Krankheiten zu behandeln, bevor sie überhaupt entstehen. So etwas ähnliches macht ja heute schon der Corona-Expertenrat. Dort arbeiten Fachleute aus vielen Disziplinen zusammen, um unser aller Gesundheit zu schützen.
Wichtiger Bestandteil einer solchen Gesundheitsbegleitung könnte eines Tages eine Smartphone-App oder ähnliches sein. Daraus würden wir erfahren, welche Konsequenzen unser Handeln im Hier und Jetzt vor dem Hintergrund einer individuellen Biographie und Biologie für das Morgen hat. Was passiert mit mir, wenn ich für einen Marathon trainiere, dieses bestimmte Medikament nehme, oder beschließe, nur noch Fastfood zu essen? Welche Auswirkungen hat das auf meine Gesundheit in einem Jahr oder gar in einem Jahrzehnt?
Klar, dass uns diese Vorstellung dystopisch erscheint. Aber der Trend ist kaum noch aufzuhalten. Und wenn wir heute die richtigen Regeln festlegen – uns mit den Problemen und Gefahren auseinandersetzen – gewinnen wir dank Systembiologie ein Leben in jener individuellen Form von Gesundheit, die wir ganz persönlich als unsere ideale Anpassung an das Leben definieren.
Selbstbestimmter Umgang mit Daten
Dafür sollten wir nicht mehr so naiv wie heute sein, als Gegenleistung für Bequemlickeiten unsere Daten an Konzerne wie Google oder Apple zu verschenken. Entscheidend wird sein, dass wir als Individuen unsere Freiheit und Unabhängigkeit behalten. Kein Staat und auch kein Arbeitgeber oder irgendeine andere Institution sollten uns vorschreiben können, was wir unter Gesundheit verstehen. Wir müssen darauf bestehen, selbstbestimmt mit unseren Daten umzugehen. Jeder Mensch muss ohne Druck festlegen können, wer Zugang zu seinen Gesundheitsdaten erhält und zu welchem Zweck diese Daten eingesetzt werden. Ein neuer Berufszweig der Datenberater*innen wird uns dabei helfen.
Und auch bei der Definition, was wir unter Gesundheit verstehen, in welche Richtung uns das vom digitalen Zwilling gesteuerte Gesundheits-Navi also führen soll, darf uns niemand hineinreden. Wir müssen frei entscheiden dürfen, wie wir unser Leben leben wollen – welche Zukunft uns persönlich wichtig ist. Denn Gesundheit ist nunmal nicht das Gegenteil von Krankheit.
Gesundheit ist die individuelle Art, möglichst zufrieden alt zu werden.
© Peter Spork