Süddeutsche Zeitung Nr. 143, 25.06.2018, S. 14
Erbgut und Erblast
Von welchem Moment an beeinflussen Umwelt und Lebenswandel die Gesundheit des Menschen? Von Geburt an? Mit der Zeugung? Noch viel früher, sagen Forscher. Zeit also, umzudenken.
Von Peter Spork
Viele Mediziner, Psychologen und Biologen denken derzeit um. Sie betrachten Gesundheit nicht länger als Zustand, sondern als Prozess, der jeden Menschen täglich begleitet. Mit dessen Hilfe passen wir uns stetig an die Anforderungen unserer spezifischen Umwelt und unseres Lebensstils an. Diese Betrachtung ist eine logische Konsequenz aus der modernen Genregulationsforschung. Diese zeigt, dass Umwelteinflüsse und Veränderungen der Ernährung und des Verhaltens beeinflussen, wie aktivierbar zahlreiche Gene in wichtigen Organen sind.
Die Körperzellen des Menschen haben eine Art Gedächtnis für Umwelteinflüsse und Lebensstil. Im Idealfall hilft dieses Gedächtnis, zeitlebens besonders widerstandsfähig zu sein und möglichst lange geistig rege und gesund zu bleiben. Andreas Plagemann, Leiter der Forschungsabteilung an der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner Charité beschreibt das Leben konsequenterweise als “individuellen, permanent umweltabhängigen Entwicklungsprozess”. Die Entwicklung eines Menschen endet demnach nicht mit der Adoleszenz. Plagemann nennt das die “Ontogenese bis ins Alter.”
Klar erscheint also, dass die Gesundheit im Sinne eines lebensbegleitenden Anpassungsprozesses erst mit dem Tod endet. Doch wann startet sie? Wann beginnen Umwelteinflüsse auf uns einzuwirken und die Molekularbiologie zu prägen? Spontan mag man die Geburt zum Startpunkt erklären. Allerdings hat sich längst herumgesprochen, wie wichtig auch die Zeit im Mutterleib für die Ausprägung zahlreicher oft erst sehr viel später wirksamer Erkrankungsrisiken ist. Die Frage, wie wir wurden, was wir sind, beantwortet Plagemann so: “Maßgeblich durch die natürlichen und sozialen Umwelt- und Entwicklungsbedingungen, unter denen wir als Individuum schon im Mutterleib und in den ersten Lebenswochen heranwuchsen.”
Was und wie viel eine werdende Mutter isst, ob und wie viel Alkohol sie trinkt, ob sie traumatisiert wird oder Zigaretten konsumiert: All das bestimmt mit darüber, wie krankheitsanfällig ihr Kind später im Leben sein wird. Der mittlerweile emeritierte Trierer Psychobiologe Dirk Hellhammer, der auf vier Jahrzehnte erfolgreiche Stressforschung zurückblickt, sagt, “frühkindliche Einflüsse sind mit Abstand der größte Risikofaktor für stressbezogene Gesundheitsstörungen”. Traumatische Erlebnisse der Mutter während der Schwangerschaft oder des Kindes im ersten Lebensjahr fänden sich “bei etwa 50 bis 70 Prozent aller Patienten mit derartigen Leiden”.
Startet unsere Gesundheit also bereits mit der Zeugung? Sogar diese Annahme erscheint neuerdings zu kurz gegriffen. Gleich drei Artikel im führenden Mediziner-Fachblatt The Lancet blickten kürzlich weit über diese Grenze hinaus. Ihnen zufolge beginnt die Gesundheit eines Menschen nicht erst, wenn Samen und Eizelle verschmelzen. Sie beginnt bereits Monate bis Jahre davor. Sie beginnt im Leben der vorangegangenen Generation. Die Artikel schildern eindrucksvolle neue Befunde über die so genannte präkonzeptionelle Gesundheit – also darüber, wie bereits die Lebensstile beider Eltern vor der Zeugung die spätere Krankheitsanfälligkeit der Kinder beeinflussen.
Das Fazit der Autoren ist eindeutig: Die Gesellschaft sollte in Zukunft deutlich mehr in die Gesundheit aller Heranwachsender und junger Erwachsener investieren. Mediziner und Gesundheitsberater sollten zudem vermehrt nach Frauen Ausschau halten, die eine Schwangerschaft planen. Zukünftige und potenzielle Eltern sollten viel mehr als bisher unterstützt, entlastet und beraten werden.
Zum Beispiel sollte man zukünftige Eltern zu ausgewogener, nicht zu kalorienreicher Ernährung mit frischen Zutaten und ausreichender Bewegung motivieren, über ungesunde Verhaltensweisen wie Rauchen oder starken Alkoholkonsum noch besser aufklären sowie gezielte Maßnahmen gegen Übergewicht oder Mangelernährung ergreifen. Bei zukünftigen Müttern sollte man zudem besser als heute auf ausreichende Blutspiegel wichtiger Mikronährstoffe wie Folsäure oder Eisen achten.
All diese Maßnahmen seien vergleichsweise kostengünstig. Vor allem aber sei es bestens angelegtes Geld. Von den Investitionen profitierten nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die folgende Generation. Folsäure zum Beispiel sei ein schon heute allgemein akzeptiertes und entsprechend gut untersuchtes Mittel zur Steigerung der Gesundheit des Nachwuchses. Achte man in der Zeit von zwei bis drei Monaten vor und nach der Empfängnis auf einen ausreichenden Folsäurespiegel bei der Mutter, verringere sich das Risiko des Kindes, einen Neuralrohrdefekt zu bekommen – einen offenen Rücken zum Beispiel -, um 70 Prozent.
Das Zeitfenster vor der Empfängnis “ist eine kritische Zeit, in der der Gesundheitsstatus der Eltern – einschließlich ihres Körpergewichts, ihres Stoffwechsels und ihrer Ernährung – das Risiko ihrer Kinder beeinflusst, später im Leben eine chronische Krankheit zu bekommen”, sagt Judith Stephenson vom Institute for Women’s Health am University College London, eine der Hauptautorinnen der Lancet-Artikel. Und sie fügt an: “Wir müssen jetzt die öffentliche Gesundheitspolitik so überarbeiten, dass sie hilft, diese Risiken zu reduzieren”
Unsicher sind sich die Experten noch, was die Dauer des entscheidenden Zeitfensters betrifft. Bisher bezeichnet man die präkonzeptionelle Phase als die letzten drei Monate vor der Empfängnis. Es ist der durchschnittliche Zeitraum, im dem Paare mit Kinderwunsch erfolgreich ein Kind zeugen. Manche Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Normalisierung des Körpergewichts bei stark Über- oder Untergewichtigen, benötigten mitunter aber ein oder mehrere Jahre Zeit. Andere Maßnahmen wie eine Anhebung des Folsäurespiegels im Blut oder die Enthaltsamkeit von Suchtmitteln, wirken hingegen schon nach einigen Wochen.
Die Experten schlagen deshalb vor, die Präkonzeption je nach Blickwinkel unterschiedlich zu bemessen: Biologisch gesehen seien es die Tage bis Wochen vor der Zeugung bis zur Einnistung des befruchteten Eis. Individuell gesehen starte die präkonzeptionelle Phase bereits mit dem Kinderwunsch der Eltern. Aus der Warte der öffentlichen Krankheitsvorsorge müsse sie hingegen oft schon Monate bis Jahre früher beginnen, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem man anfängt, die Gesundheit der künftigen Eltern positiv zu beeinflussen.
Hier adressieren die Forscher ausdrücklich nicht nur die Frauen. Viele Studien zeigen, dass Ernährung, Tabakkonsum, Stress und andere Faktoren die Qualität der Spermien beeinflussen. Vor zwei Jahren entdeckten Forscher um Romain Barrès von der Universität Kopenhagen, dass adipöse Männer, die sich ihren Magen operativ verkleinern lassen, ein Jahr später deutlich veränderte Spermien aufweisen.
Offenbar sorgte allein der Umstand, dass die Männer weniger als zuvor aßen, für “einen dramatischen Umbau der Methylierungen an der DNA der Spermien”, so die Forscher. Es wurden also die für die Genaktivität entscheidenden Methylgruppen am Erbgutmolekül an- oder abgebaut. Dadurch und auch auf anderem Weg veränderte sich die epigenetische Struktur der Keimzellen. Und damit transportieren sie “unter dem Druck von Umwelteinflüssen auf dynamische Weise” vermutlich auch geänderte Botschaften in das zukünftige Leben. Epigenetische Strukturen enthalten nämlich Informationen darüber, welche ihrer geerbten Gene die Zellen der neu entstehenden Organismen besonders gut benutzen können und welche weniger gut.
Das könne erklären, warum die Kinder übergewichtiger Väter oft ebenfalls zu Stoffwechselstörungen neigen. Anders als man früher dachte, scheinen klassisch genetisch vererbte Übergewichts- oder Diabetes-Gene dafür jedenfalls nicht nötig zu sein. Viele Studien mit Nagetieren untermauern diese These. Egal ob bestimmte Vergiftungen, traumatische Erlebnisse, eine Fehlernährung oder Anpassungen an eine Hitzeperiode: Sowohl Mütter als auch Väter scheinen Informationen zu solchen Einflüssen auf außergenetischem Weg weiter zu vererben.
Sollten sich diese Resultate auch beim Menschen bestätigen, wird es schwer fallen, überhaupt noch Grenzen für den Beginn der präkonzeptionellen Phase zu finden. Streng genommen beginnt die Gesundheit dann bereits im Leben der Großeltern.
Derzeit geht es noch vor allem darum, genauer zu erforschen, wie sich Gesundheit über Generationengrenzen hinweg fortsetzt. Nach derzeitigem Wissensstand seien “epigenetische, zelluläre, metabolische und physiologische Effekte beteiligt”, weiß Keith Godfrey von der MRC Lifecourse Epidemiology Unit an der University of Southampton und ebenfalls Hauptautor eines der Lancet-Artikel: “Noch besser zu verstehen, welches die Mechanismen sind und welche Faktoren sie antreiben, ist besonders wichtig, weil es dabei hilft, künftige Gesundheitsempfehlungen für die Zeit vor der Konzeption festzulegen.”
Egal wie diese Suche ausgeht, dürften die neuesten Erkenntnisse schon bald dazu beitragen, dass auch weiterhin, so wie in den vergangenen 180 Jahren, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen stetig steigt. Und die wichtigste Botschaft der Forscher sollte bereits heute zu denken geben: Die Gesundheit der Enkel beginnt in Teilen bereits bei der Gesundheit der Kinder. Stressforscher Dirk Hellhammer hat das bereits begriffen, wenn er fordert: “Die Freude an einer gesunden Lebensweise müsste uns allen sozusagen in die Wiege gelegt werden, indem die Gesellschaft bereits die Eltern kleiner Kinder und die Kinder und Jugendlichen selbst sehr viel mehr als heute entlastet und unterstützt.”
© Peter Spork
Der Text erschien auch beim Zürcher Tages-Anzeiger sowie einigen anderen Schweizer Zeitungen.
Eine etwas ausführlichere Fassung dieses Textes erschien bereits am 08.06.2018 bei Erbe&Umwelt: Was Gesundheit und Persönlichkeit prägt, der neuen Publikationsplattform von Peter Spork bei RiffReporter (bitte hier klicken).