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Neue Zürcher Zeitung Nr. 198, 28.08.2013, S. 54

Was uns dick macht

Klinische Studien zeigen, dass epigenetische Veränderungen das Risiko für Übergewicht beeinflussen

Überernährung im Mutterleib verändert die Aktivierbarkeit unseres Erbguts. Die Wahrscheinlichkeit, später selber übergewichtig zu sein, steigt. Durch ihren Lebensstil können Erwachsene jedoch auf epigenetische Programme einwirken.

Von Peter Spork

Die Bürger der westlichen Welt werden immer dicker. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz nimmt die Zahl stark übergewichtiger Menschen stetig zu. Ein entscheidender Auslöser dieser sogenannten Fettsucht-Epidemie liegt womöglich schon viele Jahre zurück, in einer Zeit, als die Betroffenen noch an der Nabelschnur hingen. Ernähren sich schwangere Mütter besonders reichlich, hat nämlich auch der Embryo mehr als genug zu essen. Als Folge kommt das Kind oft schon als Schwergewicht zur Welt. Es hat später im Leben auch ein deutlich erhöhtes Risiko, stark übergewichtig zu werden, eine Herz-Kreislauf-Krankheit zu bekommen oder einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln.

Seit langem sei bekannt, dass dicke Babys auch dicke Erwachsene würden, sagt Andreas Plagemann, Geburtsmediziner an der Berliner Charité. Dick sein beginne heute schon im Mutterleib, ergänzt er und belegt diese Aussage mit dem deutlichen Resultat einer unlängst abgeschlossenen Metaanalyse, in der er Daten von mehr als 600 000 Menschen berücksichtigte: Wiegen Kinder bei ihrer Geburt mehr als 4000 Gramm, haben sie später im Leben ein verdoppeltes Übergewichtsrisiko.

Plagemann vermutet wie die meisten seiner Kollegen, dass epigenetische Veränderungen in den Zellen des Gehirns und in anderen am Stoffwechsel beteiligten Zellen für die negative frühkindliche Prägung verantwortlich sind. Diese Veränderungen betreffen nicht die Gene der Zellen selbst, etwa indem ein harmloses Gen zum Fettsucht-Gen mutiert. Stattdessen verändern sich biochemische Strukturen, die an den Genen sitzen. So entscheiden sie, welches Gen eine Zelle benutzen kann und welches nicht. Dämpfen diese sogenannten epigenetischen Schalter die Aktivierbarkeit von Genen, deren Einsatz uns tendenziell schlank hält, erhöht das unser Übergewichtsrisiko. Den gleichen Effekt hat es, wenn die Schalter jene Gene leichter aktivierbar machen, deren Einsatz uns Speck ansetzen lässt.

Nun untermauert eine neue Studie, die in den «Proceedings of the National Academy of Sciences» erschienen ist, die Theorie von der epigenetischen Prägung des Übergewichtsrisikos im Mutterleib. Ein Team um die Ernährungsforscherin Marie-Claude Vohl von der Universität in Quebec, Kanada, analysierte epigenetische Markierungen am Erbgut von 50 Kindern. Diese stammten von 20 Müttern, die wegen einer Fettsucht einen Magen-Bypass erhalten hatten. Wegen der Operation hatten sie an Gewicht verloren und aßen viel weniger als früher. Das heißt aber auch: Die Hälfte der Kinder war als Embryo einem deutlich höheren Nahrungsangebot ausgesetzt als ihre jüngeren Geschwister, obwohl die Mutter noch immer die gleiche war.

Erste Daten bestätigten das altbekannte Phänomen, dass Kinder dicker Mütter später oft selbst mehr als andere wiegen: Wer vor der Operation der Mutter geboren war, war auch als Jugendlicher oder Erwachsener häufiger übergewichtig und zeigte oft erste Anzeichen eines negativ veränderten Stoffwechsels. An insgesamt 5698 Genen – also etwa einem Viertel aller menschlichen Gene – fanden die Forscher zudem in Blutzellen aus beiden Gruppen systematische Unterschiede bei den epigenetischen Markierungen. Es zeigte sich, dass viele der epigenetisch anders markierten Gene mehr oder weniger aktiv waren. Ihre unterschiedliche Programmierung hat also tatsächlich eine Bedeutung für die Biochemie der analysierten Zellen.

Zu guter Letzt entdeckten die Forscher unter den betroffenen Genen auch einige, die an der Kontrolle des Stoffwechsels und der Entstehung der typischen Krankheiten stark Übergewichtiger beteiligt sind. Vohl und Kollegen bewerten ihre Arbeit als «einmalige klinische Studie», denn sie demonstriere, dass eine effektive Behandlung der Mutter bei den Kindern «dauerhaft nachweisbar ist», und zwar beim Blick auf die Schalter an den Genen und das damit eng verbundene Gen-Aktivitätsmuster.

Johannes Bohacek, Epigenetiker an der ETH Zürich, lobt «das elegante Design der Studie». Allerdings könne ein Teil der Effekte auch auf die ersten Monate nach der Geburt zurückgehen. Die Ernährung von Müttern nach einer Bypass-Operation sei nicht nur während der Schwangerschaft anders, sondern auch danach. Und auch das bekämen die Kinder zu spüren.

Das Resultat bedeutet aber dennoch, dass das epigenetische Muster, das wir in unseren ersten neun Monaten und der Zeit danach erwerben, wohl tatsächlich für den Rest des Lebens eine entscheidende Bedeutung hat, wenn es um das individuelle Übergewichts- und Krankheitsrisiko geht. Doch die frühkindliche Prägung ist nicht zwingend unser Schicksal, wie die Epigenetik ebenfalls zeigt. Erwachsene können epigenetische Programme durch ihren Lebensstil beeinflussen. Gesunde Ernährung, Sport und Entspannung entfalten vermutlich auf diesem Weg einen Großteil ihres epidemiologisch längst bewiesenen Segens.

Am Beispiel Sport bestätigten das zuletzt Epigenetiker um Charlotte Ling von der Universität Malmö, Schweden. Sie verordneten 23 eher unsportlichen Männern ein sechsmonatiges Trainingsprogramm. Dann verglichen sie epigenetische Marker in Fettzellen, die vor und nach dem Zeitraum entnommen worden waren. Ein Unterschied fand sich an 7663 Genen, darunter 18, deren Aktivität bekanntermaßen das Übergewichtsrisiko beeinflusst, und 21, die schon länger mit Typ-2-Diabetes in Verbindung gebracht werden. Immerhin bei sechs dieser Gene hatte das Umlegen der epigenetischen Schalter auch nachweislich einen Einfluss auf ihre Aktivität.

Sechs Monate Sport verändern also zumindest bei bis dato untrainierten Menschen die Biochemie ihrer Fettzellen und beeinflussen dabei wahrscheinlich auch das Risiko für Übergewicht und andere damit verbundene Krankheiten. Das sollte gerade für Menschen, die zum Dickwerden neigen, eine gute Nachricht sein: Sie können mit Sport ihr individuelles Risiko verringern, womöglich sogar völlig unabhängig davon, ob sie dabei abnehmen oder nicht. Ihre Studie zeige direkt die positive Wirkung von Bewegung, sagt Ling.

Schon 2012 hatte Romain Barres von der Universität Kopenhagen mit einer ähnlichen Untersuchung Aufsehen erregt. Gemeinsam mit Kollegen ließ er untrainierte Probanden 20 Minuten auf einem Ergometer strampeln und nahm vor und nach dem Training winzige Muskelproben. Gene, die am Energiestoffwechsel beteiligt sind, waren in der ersten Probe epigenetisch stumm geschaltet und anschließend aktiviert.

Doch Barres’ bisher ambitioniertestes Projekt zielte noch eine Ebene weiter: Der Franzose untersuchte bei Ratten, ob diese ihre epigenetisch geprägte Neigung zu Übergewicht und Diabetes womöglich an folgende Generationen vererben. Vor drei Jahren publizierte er dazu erste Daten in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift «Nature». Männliche Ratten, die besonders fettreich gemästet wurden, bekamen im Vergleich zu ausgewogen ernährten Rattenvätern weit überdurchschnittlich häufig Töchter mit einem diabetesähnlichen Stoffwechsel. Das passierte sogar, obwohl die Mütter gesund waren und ausgewogen ernährt wurden.

Die Väter seien also nicht aus der Verantwortung, scherzte Barres Ende Mai an einer Tagung in Leipzig und betonte: Auch wenn es trotz solchen Studien bis heute noch keine endgültigen Beweise dafür gebe, dass Säugetiere und daher auch Menschen ihre Neigung zu Übergewicht epigenetisch vererben könnten, so sprächen mittlerweile doch eine Menge Indizien dafür.

Bohacek, selbst Experte auf diesem Gebiet der sogenannten transgenerationellen Epigenetik, stimmt da unumwunden zu: Schon bald müsse man vermutlich auch den Lebensstil der Eltern und Großeltern berücksichtigen. Bis dahin zählten aber vor allem die klassischen Einflüsse, wenn es um das Risiko für Zivilisationskrankheiten gehe. Das seien die Gene, der momentane Lebensstil und nicht zuletzt, wie nun bekannt sei, auch die epigenetische Prägung aus dem Mutterleib, der frühen Kindheit und dem späteren Leben.
© Peter Spork

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