Leseproben

Die folgenden Leseproben stammen aus „Der zweite Code“. Sie sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Deutschsprachige Nutzungsrechte vermittelt mein Verlag.

Vorwort: Revolution!

Wenn wir Menschen Computer wären, dann bildeten unsere Gene die Hardware. Aber natürlich müsste es auch eine Software geben – und die entschlüsseln seit ein paar Jahren die Epigenetiker. Sie erforschen Elemente an unserem Erbgut, die es programmieren, die ihm sagen, welches Gen benutzt werden soll und welches nicht.
So wie die Software entscheidet, ob wir einen Computer für Text- oder Grafikverarbeitung, Tabellenkalkulation oder zum Spielen benutzen können, so verdanken es unsere Zellen ihrer epigenetischen Programmierung, ob sie beispielsweise zum Denken, Verdauen, zur Hormonproduktion oder Bekämpfung von Krankheiten dienen. Und wer in der Lage ist, diese Software gezielt umzuprogrammieren, der kann das unerhörte Potenzial, das in den Genen steckt, besonders gut ausschöpfen.

Die Worte „Revolution“ oder „revolutionär“ werden an vielen Stellen dieses Buches auftauchen. Viel zu oft, werden manche kritisieren. Immer noch zu selten, werden andere erwidern. Als Wissenschaftsautor und Biologe kann ich nur versichern, dass ich diese Begriffe sonst eher sparsam einsetze. Im Zusammenhang mit der Epigenetik drängen sie sich allerdings ständig auf. Denn der neue Forschungszweig verspricht, unser aller Leben und das unserer Kinder und Kindeskinder umzukrempeln.
Die Epigenetik hilft den Forschern dabei, völlig neue Wirkstoffe und Therapien zu entwickeln. Sie lehrt uns, wie wir unsere Gene mithilfe des Lebensstils ein Stück weit selber steuern können. Sie erklärt uns, wie sich Teile unseres Charakters gebildet haben und wie wir mit unseren Gewohnheiten die Persönlichkeit unserer Kinder beeinflussen. Sie zeigt, wieso eine gesunde Lebensweise unser Leben verlängert – und das unserer Nachfahren obendrein. Und sie verändert ein paar grundlegende Auffassungen der Vererbungslehre.
Krankheitsvorsorge, Krebsforschung, Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Alternsforschung, Evolutionsbiologie: All diese Gebiete profitieren vom neuen Teilgebiet der Genetik, erhalten kräftige Impulse. Das wird man doch schon mal eine Revolution nennen dürfen.

Ungeahnte Macht

Was haben Sie heute gefrühstückt? Fahren Sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit? Haben Sie sich in den letzten Tagen mal so richtig Zeit für sich selbst genommen und Stress abgebaut? Wann haben Sie Ihrem Kind zuletzt über den Kopf gestreichelt und es aufgemuntert?
Warum ich solche Fragen stelle? Sie berühren Themen, um die es in diesem Buch gehen wird. Denn fast alles, was wir Menschen tun und was andere mit uns tun, wirkt sich auf unsere Zellen aus. Es hinterlässt Spuren im molekularbiologischen Fundament unseres Körpers. Eine neue Wissenschaft kann jetzt sogar zeigen, dass solche Spuren, wenn sie nur nachhaltig und stark genug sind, das innerste Wesen unserer Zellen beeinflussen: das Erbgut.

„Wir haben eine ungeahnte Macht über unsere Gene und die unserer Kinder“, sagt Randy Jirtle, Biologe an der Duke University in Durham, USA. In bemerkenswerten Experimenten bestimmt er Gesundheit und Aussehen genetisch gleicher Mäuse allein dadurch, was er ihren Müttern während der Schwangerschaft zu fressen gibt: Enthält die Nahrung spezielle Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel, werden die Jungen schlank, gesund und braun. Fehlen diese Zusätze werden sie fett, krankheitsanfällig und gelb.
Ihre Gene bleiben von diesen Einflüssen unberührt. Irgendetwas anderes als der bloße Text des Erbguts muss sich bei den Mäusen wandeln, während sie noch im Mutterleib sind. Irgendetwas, das sie für den Rest ihres Lebens prägt, das beispielsweise darüber entscheidet, ob sie im Alter verkalkte Herzkranzgefäße bekommen oder nicht.
Forscher aus aller Welt haben die rätselhaften Ursachen des Phänomens inzwischen gefunden. Mit ihnen beschäftigt sich die neue Wissenschaft, von der dieses Buch handeln soll: die Epigenetik. Neun von zehn Menschen, die man auf der Straße anspricht, haben davon noch nie etwas gehört. Epigenetik heißt so viel wie „Über-„ oder „Nebengenetik“. Sie beschäftigt sich mit den Epigenomen, das sich über, manche sagen auch nach, neben oder auf den Genomen unserer Zellen befinden.
Das Genom ist die Gesamtheit aller Gene, die im Erbgut versteckt sind. Das wiederum besteht aus einer schier endlos erscheinenden Abfolge von nur vier verschiedenen chemischen Bestandteilen. Sie sind die Buchstaben des genetischen Textes und bilden einen Code, den die Zellen wie Baupläne lesen und in die zahlreichen Proteine übersetzen können, aus denen sich ein Lebewesen zusammensetzt.
Dass wir Menschen so verschieden sind, weil sich einige unserer Gene minimal unterscheiden, und dass sich Geschwister ähneln, weil sie viele identische Gene von ihren Eltern geerbt haben, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wäre der Gentext nämlich alleine entscheidend, müssten wir untereinander viel ähnlicher sein. Selbst Schimpansen wären fast wie wir.
Auch ein anderes Phänomen lässt sich mit dem genetischen Code alleine nicht erklären: Warum kann unser Körper verschiedene Typen von Zellen bilden, obwohl sie alle identische Genome haben? Warum gibt es Nerven-, Haar-, Leber- und viele andere Zellen? Wie kann es sein, dass in den Zellkernen meines Muskelgewebes exakt das gleiche Erbgut steckt wie zum Beispiel in der Darmschleimhaut oder der Schilddrüse?
Hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Sie erforscht die Strukturen, die jeder Zelle eine Identität verleihen und in ihrer Gesamtheit deren Epigenom bilden. Es sorgt dafür, dass die Zelle nicht nur die Baupläne für alle möglichen Proteine speichert, sondern auch die Anweisungen, welche dieser Baupläne zum Einsatz kommen sollen. Und diese Anweisungen können die Zellen – wenn sie sich teilen – gemeinsam mit dem Gentext an ihre Tochterzellen weitergeben.
Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher Zeit aktiv ist und welches nicht. Dabei programmiert es sogar, ob eine Zelle schnell oder langsam altert, ob sie empfindlich oder abgestumpft auf äußere Reize reagiert, zu Krankheiten neigt oder ihre Aufgabe möglichst lange erfüllen kann.
Die Werkzeuge des Epigenoms sind so genannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich gezielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, welche ihrer Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht. So liefert das Epigenom die Grammatik, die dem Text des Lebens eine Struktur verleiht. Es ist die Software, die den Zellen hilft, die Hardware – also ihren Gencode – richtig einzusetzen. Denn es herrschte Chaos, läse eine Zelle alle ihre Gene gleichzeitig ab und produzierte sie all die vielen Proteine, deren Baupläne sie gespeichert hat, zugleich.
Per biologischer Definition beschäftigt sich die Epigenetik mit all jenen molekularbiologischen Informationen, die Zellen speichern und an ihre Tochterzellen weitergeben, die aber nicht im Erbgut enthalten sind.
„Wie bitte?“ werden Sie jetzt fragen. „Das habe ich in der Schule ganz anders gelernt. Zellen geben doch nur ihr Erbgut weiter. Sonst nichts.“ Falsch! Seit wenigen Jahren sind die Biologen überzeugt, dass unser Schulwissen korrigiert werden muss. Wenn Zellen sich teilen, vererben sie auch das epigenetische Programm.

Dass es Epigenome geben muss, hätte man sich eigentlich schon lange denken können. Und viele Forscher haben es sich Anfang des vergangen Jahrhunderts auch gedacht. Der Begriff Epigenetik wird deshalb unter Genetikern schon seit fast 70 Jahren gebraucht. Doch erst jetzt, da die Forscher den menschlichen Gencode in einem riesigen, fünf Jahrzehnte währenden Kraftakt komplett entschlüsselt haben, öffnet sich der Blick der Wissenschaft wieder neu für alte Ideen. Nun gerät zum Beispiel die Frage in den Blickpunkt, wieso im Herz nur noch Herzzellen wachsen, sich aus einer Stammzelle aber viele verschiedene Zelltypen entwickeln können.
Doch was die Epigenetik aus dem Elfenbeinturm der Grundlagenforschung holt, ist ein anderes Phänomen: Die Epigenschalter sind flexibel. Sie reagieren auf Umwelteinflüsse. Deshalb können Erziehung, Liebe, Nahrung, Stress, Hormone, Hunger, Erlebnisse im Mutterleib, Vergiftungen, Psychotherapie, Nikotin, außergewöhnliche Belastungen, Traumata, Klima, Folter, Sport und vieles mehr unsere Zellen umprogrammieren.
Solche Faktoren können die Biochemie der Zelle umkrempeln und lassen dennoch den genetischen Code vollkommen unangetastet. In dieser Erkenntnis steckt eine riesige Chance, die Moshe Szyf, israelischer Epigenetiker von der Universität in Montreal, Kanada, so formuliert: „Wenn die Umwelt eine Rolle bei der Veränderung unserer Epigenome spielt, dann können wir eine Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen schlagen. Und das ändert unsere Sicht des Lebens total.“ Denn die Epigenetik erklärt, wieso die Außenwelt unseren Körper und Geist dauerhaft verändern kann.
Und je jünger wir sind, desto offener scheinen unsere Zellen auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Randy Jirtles Mäuse sind noch im Mutterleib, wenn die Nahrung ein paar ihrer Gene für den Rest ihres Lebens abschaltet und ihre Fellfarbe und Krankheitsanfälligkeit manipuliert.
Die Hinweise häufen sich, dass bei uns Menschen genau die gleichen Prozesse ablaufen. Vor allem wird endlich klar, warum es den Charakter von Kindern so nachhaltig prägt, welche emotionalen Erfahrungen sie und ihre Eltern kurz vor und nach der Geburt machen, so dass zum Beispiel manche Menschen eher zu Depressionen und Angsterkrankungen neigen als andere. Die Epigenetik legt außerdem nahe, dass es sich oft schon vor der Geburt entscheidet, ob wir eines Tages Krebs, Diabetes, starkes Übergewicht, eine Suchterkrankung oder eine Herz-Kreislauf-Krankheit bekommen. Und sie kann erklären, warum manchen Menschen eine ungesunde Lebensweise weniger ausmacht als anderen.

Was die Forscher bisher herausgefunden haben, klingt sensationell: Indem wir die Programmierung des Genoms mehr oder weniger bewusst verändern, können wir unsere Physiologie – unseren Körper und Geist – dauerhaft beeinflussen. Und wir haben eine riesige Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen. Denn manche Entscheidung, die wir teils schon lange vor ihrer Geburt treffen, verändert ihre Persönlichkeit, ihre Gesundheit, ihre Lebenserwartung.
Rudolf Jaenisch vom weltberühmten Whitehead Institute in Boston, USA, deutscher Pionier der Gentechnik und Stammzellforschung sowie seit vielen Jahren Nobelpreiskandidat, verriet mir: „Das Jahrzehnt der Genetik ist schon lange vorbei. Wir befinden uns jetzt mitten im Jahrzehnt der Epigenetik. In diesem Feld passieren derzeit die wichtigsten und aufregendsten Dinge der Molekularbiologie.“
Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Denken in der Biologie, an der Schwelle zur „postgenomischen Gesellschaft“, weiß auch Thomas Jenuwein, Leiter der Arbeitsgruppe für Epigenetik am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg im Breisgau. Denn der neue Zweig der Genetik liefert das lange gesuchte Bindeglied zwischen der Umwelt und den Genen. Er macht die nurture-versus-nature-Diskussion, die das Fach seit hundert Jahren antreibt, endlich hinfällig: Die Frage, welche Eigenschaften wir von unseren Vorfahren geerbt und welche wir durch Erziehung, Kultur und die Interaktion mit unserer Umwelt erworben haben, stellt sich in dieser Form nicht mehr. Beide Seiten sind keine Gegensätze, sie ergänzen sich. Die Umwelt beeinflusst das Erbe und umgekehrt.
„Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert“, sagt Rudolf Jaenisch. Und er ergänzt, was die Epigenetik so spannend mache, sei ihre Komplexität: „Die Genome Ihrer Zellen sind alle gleich. Kennen Sie eines, kennen Sie alle. Aber jeder Mensch hat zigtausend verschiedene Epigenome.“ Ist diese Vielfalt erst erforscht, werden sich ungeahnte Möglichkeiten für neue Forschungsansätze und Therapien ergeben.
Letztlich wird die Epigenetik sogar erreichen, was ihre scheinbar übermächtige Mutter, die Genetik, aus eigener Kraft nicht schaffen konnte: die biomedizinische Revolution des 21. Jahrhunderts zu vollenden.

Die Epigenom-Manipulatoren

(…) Auf jeden Organismus prasseln unentwegt tausende verschiedene Botschaften aus der Umwelt ein. Und die Lebewesen haben die unterschiedlichsten Systeme entwickelt, damit umzugehen. Für besonders rasch auftretende Ereignisse, auf die sie schnell reagieren müssen, besitzen sie Sinnesorgane und eine Reflexkette. Andere Umwelteinflüsse wirken dagegen gleichbleibend über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Bei ihnen macht die epigenetische Antwort Sinn. Lebt ein Mensch zum Beispiel in einer Dürrezeit, so ist es eine ideale Anpassung, wenn sich die Zellen seines Hormonsystems derart umprogrammieren, dass sich sein Stoffwechsel langfristig mit einer geringen Energiezufuhr zufrieden gibt.
Ein Beispiel aus der Welt der Wasserflöhe zeigt, wie gut dieses Modell in der Realität funktioniert: Sobald sich zu viele ihrer Hauptfeinde, eine Art von Mückenlarven, im Wasser aufhalten, wachsen den winzig kleinen Krebsen Schutzhauben. Diese helfen bei der Flucht vor den Larven. Das Haubenwachstum verbraucht allerdings viel Energie, die dann bei anderen Aufgaben fehlt.
Ob die kleinen Krebse mit oder ohne Schutzhaube leben, hängt letztlich davon ab, welche der beiden Strategien zu einem bestimmten Zeitpunkt den größten Vorteil verschafft. Und das messen die Zellen der Wasserflöhe anhand eines bestimmten Signals aus der Umwelt: Sind größere Mengen einer Chemikalie im Wasser, die ihre Feinde absondern, schalten sie auf Haubenbau; nimmt die Menge der Substanz ab, schalten sie zurück, und es wachsen wieder vermehrt Wasserflöhe ohne Haube heran. Gibt es nur wenig Feinde, ist das Haubenwachstum Energieverschwendung. Gibt es viele, ist es lebensrettend.
Auch uns Menschen hat die Umwelt sehr viel stärker im Griff als wir ahnen, weiß der Genforscher Jörn Walter. „Fast alles wirkt sich über die Epigenetik irgendwie auf unsere Gene aus: Essen, Verhalten, Gifte, Stress, möglicherweise sogar klimatische Veränderungen.“ Äußere Faktoren beeinflussen etwa über das Nerven- und das Hormonsystem unsere Physiologie, bis hin zum Stoffwechsel der einzelnen Zelle. Jeder dieser Faktoren besitzt das Zeug zum Epigenom-Manipulator und hat damit das Potenzial, uns auf Dauer zu verändern. (…)

Wenn Ratten ihre Kinder nicht lecken

Das sind doch alles ganz gewöhnliche Laborratten, denken die meisten Laien, wenn sie einen von Michael Meaneys Versuchsräumen an der McGill University in Montréal betreten. Richtig niedlich, wie überall kleine Grüppchen der Nager in ihren Käfigen umherwuseln, wie sie sich gegenseitig beschnuppern, putzen, kraulen und lecken oder Mütter mit ihren Kindern kuscheln. Doch der Eindruck täuscht: Manche Ratten sind anders als die anderen. Sie treten aggressiv, ängstlich, reizbar, ungesellig und hypernervös auf. Andere Versuchstiere wiederum zeigen sich besonders mutig, kuschelbereit, freundlich und auch lernfähig.
Der kanadische Hirnforscher und Verhaltensbiologe Meaney weiß genau, warum das so ist: Die Mütter der ängstlichen Tiere haben sich in den ersten acht Tagen nach der Geburt nicht ausreichend um die Kleinen gekümmert. Es sind so genannte non licking mothers – Mütter, die ihren Nachwuchs nicht lecken.
Die mutigen Tiere hingegen wurden in diesem Zeitfenster von ihren Müttern besonders gut umsorgt. Dabei spielte es übrigens keine Rolle, ob es sich um ihre eigenen Kinder handelte oder nicht: Vertauschten die Forscher die Jungen, wurden immer jene Ratten zu ängstlichen Tieren, deren Mütter sie vernachlässigten – ganz egal ob sie mit ihnen verwandt waren oder nicht. Es sind also nicht die Gene, die für die massiven Charakterunterschiede bei den Versuchstieren verantwortlich sind, sondern deren erste Erfahrungen. Die Zeit nach der Geburt scheint eine besonders sensible Phase im Leben einer Ratte zu sein. Offenbar treffen ihre Gehirnzellen dann ein paar grundsätzliche und größtenteils bleibende Entscheidungen.

Diese Erkenntnis war eigentlich nicht neu, als Meaney und seine Kollegen Ian Weaver und Moshe Szyf ihre Resultate im Jahr 2004 publizierten. Berühmt und vielzitiert wurde die Studie, weil sie als erste zeigen konnte, dass das gegensätzliche Verhalten der Nager sich in Veränderungen des epigenetischen Musters von Gehirnzellen widerspiegelt.
So genannte licking-and-grooming-Experimente gab es bereits Ende der 1990er Jahre. Sie heißen so, weil die mütterliche Fürsorge bei Ratten denkbar einfach zu messen ist: anhand der Häufigkeit, mit der eine Mutter ihre Jungen leckt (licking) und putzt oder krault (grooming). Mit diesen Aktionen vermittelt sie ihren Jungen das Gefühl von Geborgenheit, das sie so dringend brauchen. Denn je geborgener die Kleinen sich fühlen, desto stabiler begegnen sie zukünftigen Bedrohungen und desto ausgeglichener sind sie. Da die Erfahrungen der ersten Tage sich tief in ihr Gehirn „einbrennen“, hält dieser Effekt sofern nichts Außergewöhnliches dazwischen kommt zeitlebens an.
Meaney und Kollegen entdeckten 2004, wie das „Einbrennen“ der Information auf der epigenetischen Ebene funktioniert. (…)

Wir sind, was unsere Mutter gegessen hat

Gewöhnliche Gelbe Agouti-Mäuse sind nicht unbedingt zu beneiden. Sie sind dick, träge und bekommen im Alter besonders leicht Diabetes oder Krebs. Allenfalls ihr blassgelbes, fast goldfarbenes Fell mag schöner sein als das Dunkelbraun, das ganz normale Mäuse tragen.
Die Fellfarbe vieler Säugetiere hängt vom so genannten Agouti-Gen ab. Es enthält den Code für ein Enzym, das die Haarfollikel zwingt, statt des standardmäßig erzeugten schwarzen Farbstoffs eine hellere Variante zu bilden. Mischen sich die Farben, entsteht braun. Ist das Agouti-Gen inaktiv, werden die Tiere schwarz. Und arbeiten die Agouti-Gene an verschiedenen Stellen des Körpers unterschiedlich gut (was übrigens auch epigenetisch gesteuert wird), werden die Tiere gestreift, getigert oder gescheckt.
Bei der Gelben Agouti-Maus ist das farbgebende DNA-Stück so verändert, dass das von ihm codierte Enzym den schwarzen Fellfarbstoff fast völlig unterdrückt. Und weil dieser Botenstoff zusätzlich ein paar andere wichtige Regelkreise im Stoffwechsel durcheinander bringt, werden die betroffenen Tiere zudem besonders leicht fettleibig, haben Probleme mit der Insulinerzeugung und bekämpfen bösartige Geschwülste in ihrem Körper schlechter als gewöhnliche Mäuse.
Genau an dieser Stelle setzt ein Experiment an, das zu den ganz großen Erfolgen der Epigenetik gehört. Es brachte dem verantwortlichen Wissenschaftler Randy Jirtle im Jahr 2007 sogar eine Nominierung zur „person of the year“ des Time magazine ein. Der Krebsforscher und Toxikologe an der Duke University in Durham, USA, kam vor ein paar Jahren mit seinem Mitarbeiter Robert Waterland auf die Idee, trächtige Gelbe Agouti-Mäuse mit großen Mengen bestimmter Nahrungsergänzungsmittel zu füttern. Die beiden wollten herausfinden, ob sich das auf die Fellfarbe der Jungen auswirkt.
„Wir wussten, dass am Promotor des Agouti-Gens eine Stelle sitzt, an die Methylgruppen besonders leicht binden und das Gen abschalten können“, erinnert Jirtle sich. „Also dachten wir, wenn wir die Methylierung in den Zellen der Jungen über die Ernährung ihrer Mütter beeinflussen würden, sähen wir das sehr wahrscheinlich auch sofort daran, mit welcher Fellfarbe sie auf die Welt kommen.“ Jirtle und Waterland mischten nun einigen der trächtigen Tiere Substanzen ins Futter, die der Methylierungsmaschinerie der Zelle helfen – sie sozusagen besonders gut schmieren: Folsäure, Vitamin B-12, Cholin und Betain. Diese Substanzen brauchen nämlich jene Enzyme für ihre Arbeit, die Methylgruppen an die DNA „kleben“. Andere werdende Agouti-Maus-Mütter erhielten gewöhnliches Futter.
Und tatsächlich zeigte sich, dass die Nachfahren der beiden Gruppen unterschiedlich gefärbt zur Welt kamen. Die Nager mit der Methylierungsdiät gebaren zum Großteil ganz normale, schlanke, braune Jungtiere, die auch später im Leben nicht häufiger dick und krank wurden als gewöhnliche Mäuse. Die Mütter hingegen, die kein Spezialfutter erhalten hatten, brachten Gelbe Agouti-Mäuse zur Welt. Trotz dieser Unterschiede hatten alle Jungen das fehlerhafte Agouti-Gen geerbt.
Schließlich machten Waterland und Jirtle die entscheidende Entdeckung: Bei den Mäusen, die ein braunes Fell hatten, saßen viel mehr Methylgruppen am Agouti-Gen, als bei den dicken gelben Tieren. Offenbar war das krankheitsauslösende DNA-Stück während der Embryonalentwicklung epigenetisch still gelegt worden. Und offenbar war die Methylierungsdiät dafür verantwortlich. (…)

Warum die einen krank macht, was andere gesund hält

Bei der Geburt haben alle Menschen die gleiche Anzahl von Schweißdrüsen in ihrer Haut. Diese sind jedoch inaktiv und beginnen erst nach etwa drei Jahren mit der Ausscheidung des salzigen Sekrets, das unserem Körper beim Abkühlen hilft. Wie viele der Drüsenanlagen dann tatsächlich funktionsfähig sind, hängt davon ab, wie warm es in den ersten drei Lebensjahren auf der Körperoberfläche war.
Wer also in heißem Klima aufwächst, schwitzt in seinem späteren Leben mehr als Menschen aus kühlen Weltregionen – eigentlich eine ausgesprochen sinnvolle, epigenetisch gesteuerte biologische Anpassung. Wenn überfürsorgliche Eltern allerdings hierzulande das Kinderzimmer immer extra gut heizen, und ihren Kleinen selbst im Sommer Pullover und dicke Socken anziehen, damit sie auch ja nie frieren, dann sollten sie sich nicht wundern, dass ihre Kinder später „Käsefüße“ haben.

Hinter diesem kuriosen Beispiel verbirgt sich ein aufregendes Konzept: das der frühkindlichen Programmierung. Danach gibt es während der frühen Entwicklung des Organismus sensible Zeiten, in denen epigenetische Prägungen stattfinden. Sie bereiten das Kind auf das spätere Leben vor.
Ist zum Beispiel das Nahrungsangebot im Mutterleib extrem knapp, stellt sich der Stoffwechsel epigenetisch auf magere Zeiten ein. Das aber treibt Säuglinge und Kinder rasch ins Übergewicht, sobald sie nicht mehr Hungern müssen und vermutlich oft sogar dann, wenn sie sich relativ normal ernähren. Dadurch programmieren sich die Stoffwechselzellen der Kleinen erneut epigenetisch um, und der Grundstein für das Metabolische Syndrom ist gelegt. Ähnlich ergeht es Kindern, die ohne vorher gehungert zu haben im Mutterleib oder in den ersten Lebensjahren überernährt werden: Auch ihr Stoffwechsel stellt sich auf das zu große Angebot ein. Die beteiligten Zellen programmieren sich so, dass sie besonders viel Nachschub verlangen. Das Kind wird und bleibt höchstwahrscheinlich dick. (…)

Von Telomeren und Telomerase

Unser Erbgut ist pausenlos bedroht – etwa von UV-Strahlung, Asbest, Sauerstoffradikalen oder Nikotin. Sie lösen bekanntlich Mutationen aus und damit letztlich Krebs. Doch auch die eigene Kolonne aus DNA-Reparaturproteinen entfaltet manchmal ein gehöriges Zerstörungspotenzial, obwohl sie das Erbgut ja eigentlich vor schwerwiegenden Schäden schützen soll.
In jeder Zelle gibt es eine solche agile Gruppe von Eiweißen. Sie suchen den DNA-Faden ununterbrochen nach Fehlern ab, schneiden ihn im Zweifelsfall auseinander, tauschen defekte oder fehlerhafte Anhängsel aus und kleben das reparierte Erbgut wieder zusammen. Ohne diese Proteine geht jede Zelle binnen kurzer Zeit zugrunde, das heißt sie opfert sich und stirbt, weil sich zu viele Fehler in ihr angehäuft haben. Sonst wird sie bösartig und frisst den Körper als Krebsherd von innen auf.
So tragen die Reparaturenzyme zwar entscheidend dazu bei, dass eine Zelle jung bleibt, doch sie sind mitnichten unfehlbar. Denn sie bauen immer wieder falsche Teile des Erbgutfadens aneinander. Besonders häufig passiert das an den Enden der insgesamt 46 Chromosomen, auf die sich unser „Buch des Lebens“ verteilt. Sind diese Enden frei zugänglich, werden sie von den Reparaturenzymen sogleich für auseinandergebrochene DNA gehalten und an ein anderes offen liegendes DNA-Ende geklebt. Der genetische Schaden ist natürlich riesig.
Damit solche und andere ungewollte chemische Reaktionen nicht zu oft passieren, sitzen an den Enden der Chromosomen regelrechte Schutzkappen, Telomere genannt. Sie bestehen aus vielen verschiedenen Proteinen und umschließen den DNA-Faden noch viel fester als gewöhnliche Histone. So schützen sie ihn vor den Zugriffen der Reparaturenzyme und vor anderen zerstörerischen Einflüssen, ähnlich wie es die Plastikkappen an den Enden von Schnürsenkeln tun.
Doch die Telomere scheinen ganz nebenbei eine Art Lebensuhr zu sein. Denn zumindest theoretisch verlieren die Chromosomenenden bei jeder Zellteilung ein kleines Stückchen DNA samt Proteinkappe – im Durchschnitt ungefähr 20 Doppelhelix-Streben lang. Eines Tages sind die Telomere dann so gut wie aufgebraucht und die Zellen müssen sterben. Das Alter einer Zelle lässt sich dennoch nur sehr grob anhand der Länge ihrer Schutzkappen schätzen, da diese bei verschiedenen Zelltypen unterschiedlich schnell verschleißen. Zudem scheint der gesamte Prozess einer komplexen, bisher nur zum Teil verstandenen Regulation zu gehorchen.
Man dürfe sich die Telomere keinesfalls so simpel vorstellen wie eine Kette, die pro Zellteilung eine bestimmte Anzahl Perlen verliere, meint auch Elizabeth Blackburn: „Dort bedeckt eine sehr dynamische, hoch organisierte Struktur von zahlreichen verschiedenen Proteinen die DNA.“ Jedes Protein erfüllt eine bestimmte Aufgabe. Es unterstürzt beispielsweise ein anderes Protein bei seiner Arbeit, festigt oder lockert das Telomergerüst, stabilisiert die DNA, lagert chemische Gruppen an andere Proteine an oder baut sie ab.
Das klingt natürlich verdächtig nach Epigenetik – und das ist es auch. Ganz besonders gilt das für ein Enzym, das in viele Telomere eingebaut ist und das Blackburn gemeinsam mit Carol Greider in den 1980er Jahren entdeckte: die Telomerase. Sie sorgt nach jeder Zellteilung dafür, dass sich die verkürzte DNA samt Schutzkappe wieder verlängert. Damit hält sie die Zelle jung. „Ist ausreichend Telomerase vorhanden, bleibt die Telomerlänge immer im Gleichgewicht“, sagt Blackburn.
Diesem „Jungbrunnenenzym“ verdanken zum Beispiel menschliche Stammzellen und Keimzellen – also Eizellen und Samenvorläuferzellen – ihre ewige Jugend. Aber auch die Knochenmarkzellen, die laufend das Immunsystem erneuern, und noch einige andere Körperzellen bleiben dank Telomerase jung. Es gibt sogar Einzeller, Tetrahymena genannt, die dank einer sehr aktiven Telomerase so gut wie gar nicht altern. Schalten Forscher bei ihnen jedoch das Gen für das Enzym ab, verkürzen sich ihre Telomere rapide, und sie müssen nach 20 bis 25 Teilungen sterben. (…)

Darwins Irrtum – Lamarcks Comeback?

Die These von der so genannten transgenerationalen – also generationsüberschreitenden – Epigenetik trifft mitten ins Herz der Biologie. Denn sie nährt den Verdacht, dass Jean-Baptiste de Lamarck, der einstige Gegenspieler des großen Charles Darwin, mit seinen lange Zeit verachteten Ideen doch ein kleines Stück weit recht hatte. Lamarck behauptete, Lebewesen könnten sich zielgerichtet an ihre Umwelt anpassen, und diese erworbenen Fähigkeiten dann an ihre Nachfahren vererben. Das berühmteste, häufig zitierte und noch häufiger bespöttelte Beispiel für die Lamarck’schen Thesen ist, dass Giraffen deshalb einen so langen Hals bekamen, weil sie sich immer wieder nach den höchsten Blättern an den Bäumen reckten.
Die mögliche Rehabilitation des Franzosen kommt zu einem denkbar unpassenden Zeitpunkt. Denn das Jahr 2009 ist das große Darwin-Jahr. Der Übervater der Biologie und geniale Begründer der Evolutionstheorie wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden, und die Erstpublikation seines bahnbrechenden Werks „The Origin of Species“ ist exakt 150 Jahre her.
Da passt es gar nicht in die Feierstimmung, dass die Epigenetik eine der zentralen Aussagen von Darwins Theorie ankratzt: Eine zielgerichtete Evolution à la Lamarck gebe es nicht. Die Weiterentwicklung der Arten sei nichts anderes als das Resultat vieler winziger und zufälliger Veränderungen, die einigen Lebewesen im Wettstreit um die begrenzten Ressourcen ihrer Umwelt oder als Schutz vor Bedrohungen einen Vorteil verschaffen. Diese Wesen würden dann aufgrund ihres Vorteils mehr Nachkommen zeugen als andere Vertreter der gleichen Art, so dass sich das Merkmal langfristig durchsetze und im Extremfall sogar zur Bildung neuer Arten führe.
Nach diesem unzweifelhaft richtigen und bis heute immer besser belegten Grundprinzip Darwins lässt sich die gesamte Entwicklung des Lebens auf der Erde erklären – vom Bakterium über Wurm und Affe bis zum Menschen. Das zu erkennen, war die bewundernswerte Leistung des Briten. Und alle modernen Pseudotheorien wie der Kreationismus oder das intelligent design, die diese grundsätzliche biologische Erkenntnis anzweifeln, benutzen dafür keinerlei stichhaltige, wissenschaftlich gesicherte Tatbestände. Sie sind völlig unseriös und halten einer von Vernunft geleiteten Überprüfung nicht stand.
Weitaus ernster zu nehmen sind die Argumente einer Gruppe von Forschern, die sich selbst provozierend Neo-Lamarckisten nennen. Sie behaupten, Darwin habe zumindest ein wenig geirrt und Lamarck habe ein kleines bisschen Recht gehabt. Natürlich glauben sie nicht an die Lamarck’sche Theorie vom gewollten Wachstum des Giraffenhalses. Aber sie vertrauen darauf, dass auch epigenetische Codes mitunter vererbt werden – und damit gezielte, nicht zufällig erworbene Umweltanpassungen. (…)

Die Epigenetik verändert die Krebsforschung

Es ist noch keine zehn Jahre her, da konnten selbst manche studierten Biologen mit dem Begriff Epigenetik nicht viel anfangen. Auch ich musste damals bei einem Interview in einem japanischen Krebsforschungsinstitut unbedarft nachfragen, als mir ein sichtlich stolzer Laborleiter von seiner neuesten Top-Substanz erzählte: Es sei ein epigenetisches Mittel, das bereits in der zweiten Phase der klinischen Prüfung an verschiedenen Tumorarten des Menschen erfolgreich getestet werde.
„Was ist denn ein epigenetisches Mittel?“, entgegnete ich und war froh, dass Japaner so höflich sind, sich niemals anmerken zu lassen, für wie ahnungslos sie ihr Gegenüber halten. Die Antwort lautete: das potenzielle Medikament hemme Histondeacetylasen. Das war eine meiner ersten Begegnungen mit der Histonmodifikation. Denn diese Enzyme verändern die Proteine, die immer im Achterpack eine der Nukleosom genannten „Kabeltrommeln“ bilden, auf die sich der DNA-Faden mehr oder weniger fest aufwickelt.
Damals verriet mir die Erklärung indes wenig. Also fragte ich weiter. Und die dann folgende Lektion gehörte fraglos zu den Schlüsselmomenten, um mein Interesse am zweiten Code endgültig zu wecken: Histondeacetylasen, kurz HDACs, sind Enzyme, die Acetylgruppen von den Schwänzen der Histone entfernen, notierte ich. Dadurch ziehen sich Nukleosom und DNA plötzlich stark an, die Histonproteine binden das Erbmolekül etwas fester als zuvor. Die Folge: das an dieser Stelle kontrollierte Gen wird deaktiviert. Mit Hilfe der HDACs, zu denen auch die lebensverlängernden Sirtuine gehören, entscheidet eine Zelle also mit, welche Teile ihres Erbguts sie ablesen kann und welche nicht. Und je nachdem, welches Gen davon betroffen ist, kann das die Zelle sogar zu Krebs entarten lassen.
Bis zu diesem Moment dachte ich, Krebs entsteht, weil eine Zelle krankhaft veränderte Gene hat, die ihre Funktion verlieren oder plötzlich eine falsche Aufgabe übernehmen. Das ist zwar richtig. Es ist aber nicht die einzig mögliche Erklärung. Nun lernte ich, dass Krebs durchaus auch eine andere, eine epigenetische Ursache haben kann, bei der die Gene selbst unverändert bleiben. Die Zellen werden bösartig, weil biochemische Schalter dauerhaft „böse“ Gene an- oder „gute“ Gene ausschalten.
Für die Krebsforschung ist diese Erkenntnis ein Glücksfall. Denn anders als genetische Mutationen lassen sich Veränderungen des zweiten Codes prinzipiell rückgängig machen. Sie sind also auch vergleichsweise einfach pharmakologisch zu behandeln – man muss nur die richtigen Angriffspunkte und Medikamente finden. (…)