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Frankfurter Rundschau 23. Juni 2007, S. 12.
Dick, dumm und gereizt
Ständiger Schlafmangel wirkt sich negativ auf Körper und Geist aus

Von Peter Spork

Es ist wahrscheinlich die größte offene Frage der Biologie”, sagt der Chicagoer Schlafforscher Allan Rechtschaffen zum Jahrtausende alten Rätsel nach dem Sinn des Schlafs. Warum verbringen wir ein Drittel unseres Lebens in einem passiven, unproduktiven, weitgehend schutzlosen Zustand?

Forscher sind der Lösung inzwischen viel näher gekommen. Es scheint, als müsse vor allem unser Nervensystem hin und wieder in einen anderen Zustand wechseln, in dem das Wachbewusstsein weitgehend abgeschaltet ist.

Wir schlafen folglich für das Gehirn, für unsere Erinnerungen, die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit. Wir schlafen aber auch, damit der Körper regeneriert, sich die Organe verjüngen und der Stoffwechsel im Gleichgewicht bleibt. Überspitzt formuliert macht Schlafmangel dick, dumm, krank – und sehr reizbar.

Fast monatlich machen neue Studien auf die fatalen Folgen eines nicht erholsamen oder zu kurzen Schlafs aufmerksam: Vergangenen Mai waren es australische Kinderärzte, die im Fachblatt “Pediatrics” dokumentierten, wie viele Eltern unter den Schlafstörungen ihrer Kinder leiden (Bd. 119). Die Mediziner ermittelten den körperlichen und seelischen Zustand von 5107 Eltern und fragten sie nach dem Schlaf ihrer Säuglinge. Jedes sechste Kind schlief äußerst schlecht. Die zugehörigen Eltern litten besonders häufig an Dauerstress und waren weniger Gesund als der Durchschnitt.

Wenn man den Schlaf der Kinder verbessere, helfe man auch den Eltern, sagt Co-Autorin Harriet Hiscock vom Royal Children’s Hospital in Melbourne. In einer anderen Studie konnte sie sogar zeigen, dass die Mütter von Säuglingen mit Schlafproblemen besonders häufig nachgeburtliche Depressionen haben. “Es ist fantastisch, wenn Sie das Schlafproblem des Kindes angehen und sich die Mutter hinterher besser fühlt”, sagt Hiscock.

Es spricht sich allmählich herum: Wer schlecht schläft, riskiert viel. Im Tiefschlaf schüttet der Körper Wachstumshormon aus. Das lässt Wunden heilen und verjüngt Organe. Zugleich trainiert das Immunsystem für die Bekämpfung zukünftiger Krankheiten und das hochkomplexe Stoffwechselgefüge kommt zur Ruhe. “Moderne Menschen schlafen im Durchschnitt etwa eine Stunde weniger als vor 20 Jahren. Vielleicht sind viele unserer so genannten Zivilisationskrankheiten langfristige Folgen dieses Trends”, sagt die Basler Chronobiologin Anna Wirz-Justice.

Gesunde junge Menschen, die sechs Nächte lang zu kurz schlafen, haben Blutwerte wie Alte mit einem hohen Risiko für Diabetes oder Herzinfarkt. “Eine Schlafschuld dürfte den Schweregrad chronischer Alterskrankheiten verstärken”, bilanziert Karine Spiegel von der Brüsseler Universität, die das Phänomen einst entdeckte. Anders gesagt: Wer zu wenig schläft, wird schneller alt.

Auch beim Übergewicht zweifelt kaum mehr jemand an einem direkten Zusammenhang zum Schlafmangel. Emmanuel Mignot von der Stanford Universität ermittelte, dass Menschen, die weniger als acht Stunden pro Nacht schlafen, umso mehr zunehmen, je weniger Schlaf sie bekommen. Normalschläfer hätten im Blut vergleichsweise geringe Werte des Hungerhormons Ghrelin und hohe Werte des körpereigenen Appetitzüglers Leptin. Schlafen wir zu wenig, essen wir folglich mehr als wir müssten, vermutet Mignot: “In westlichen Gesellschaften, in denen chronischer Schlafentzug häufig und Nahrung leicht erhältlich ist”, könnten die beobachteten Effekte “entscheidend zur Verbreitung von Übergewicht beitragen”.

Der Schlaf ist genauso vital wie die Wachheit. Selbst das schlafende Gehirn hat ähnlich viel zu tun wie das wache. Schlaf ist lebenswichtig: Fliegen schlafen. Würmer schlafen. Versuchstiere, die nicht schlafen dürfen, sterben binnen zwei bis drei Wochen. Und schwimmende Delfine oder ziehende Vögel, die kein Nickerchen machen dürfen, schlafen immerhin halb – abwechselnd mit jeweils einer Hirnhälfte.
© Peter Spork

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