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Tages-Anzeiger (Zürich), 5. Januar 2000, S. 38
Schall und Raum – der Fötus in 3-D
Die vorgeburtliche Ultraschalluntersuchung erobert die dritte Dimension. Das wird die Nachfrage steigern – und die Kritik

Von Peter Spork

Die Ärztin gleitet mit der grauen Sonde über den kugeligen Bauch. Auf dem Monitor erscheinen schemenhaft die Umrisse des Ungeborenen. Höhlen klaffen, wo Augen sein sollten, als Perlenkette huscht die Wirbelsäule durch das Bild, regelmässig zucken die Kammern des winzigen Herzens, ein mysteriöser schwarzer Fleck tritt hervor. “Die Blase ist voll, die Nieren funktionieren”, diagnostiziert die Ärztin und lässt die Sonde weitergleiten zu den zart schimmernden Fingerchen. Den Eltern stockt der Atem, sie zählen mühsam bis fünf, da ist der Spuk vorbei. “Alles bestens”, sagt die Ärztin.

Fast alle jungen Eltern erinnern sich an solche Szenen. Mindestens bis 2001 müssen Schweizer Krankenkassen auch bei völlig normal verlaufenden Schwangerschaften zwei Ultraschalluntersuchungen erstatten (siehe Kasten). Im Schnitt greifen die Ärzte in den neun Monaten allerdings viereinhalb Mal zum Sonografiegerät, schätzt Roland Zimmermann vom Departement Frauenheilkunde des Universitätsspitals Zürich.

Die Nachfrage dürfte noch weiter steigen, denn nun erobert die vorgeburtliche Ultraschalluntersuchung auch die dritte Dimension. Das ermöglicht fotorealistische Darstellungen der Gesichter Ungeborener, Abbildungen ganzer Föten mit räumlich hervortretenden Armen und Beinen, Genitalien, Ohren oder Blutgefässen.

Ärzte interessieren solche Bilder wenig. “Sie sind ein schönes Nebenprodukt”, sagt Eberhard Merz, einer der Pioniere des 3-D-Ultraschalls von der Universitätsfrauenklinik in Mainz. Für die Diagnostik sei wichtiger, dass der Computer, der nicht nur flache Bilder, sondern ganze Volumina speichert, ein Schnittbild aus jeder beliebigen Richtung und in jeder beliebigen Ebene berechnen könne. “Damit ist auch beim Ultraschall eine echte tomografische Untersuchung möglich, wie wir sie von Kernspinaufnahmen kennen”, sagt Merz. Nicht nur Embryos, sondern auch Tumoren in Leber, Brust und Nieren können Ärzte jetzt vollständig erfassen und vermessen.

Seit wenigen Jahren entwickeln Informatiker Programme, die aus vielen zweidimensionalen Aufnahmen räumliche Bilder berechnen. Was anfangs zig Minuten dauerte und meist unbefriedigende Ergebnisse brachte, geht heute in Sekunden: Der Arzt hält die Sonde kurze Zeit still; die Schallsender machen einen Schwenk und nehmen mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln auf. “Die gespeicherten Daten kann ich später in aller Ruhe auswerten”, betont Rabih Chaoui, Geburtshelfer vom Universitätsspital Zürich. Egal, wie ein Kind liegt, er kann es immer aus dem idealen Winkel sehen.

Auch der Blutkreislauf wird für den Experten sichtbar. “Bisher war es unheimlich schwierig, den Verlauf von Blutgefässen aus Schnittbildern zu rekonstruieren”, sagt Chaoui, “jetzt scanne ich ein 3-D-Bild von Kopf bis Fuss ein – schon weiss ich, wie die Gefässe, etwa im Gehirn oder rund um das Herz, verlaufen.” Eine Reihe von Anomalien, die Hinweise auf Organstörungen oder Fehlbildungen sein können, lassen sich nun auf den ersten Blick erkennen.

Während heute nur Standbilder entstehen, wird es in wenigen Jahren möglich sein, bewegte räumliche Bilder auf den Monitor zu zaubern. Mindestens 25 Bilder pro Sekunde erlauben es, Eingriffe wie die Punktion der Nabelschnur zu überwachen oder Bewegungen zu analysieren. Die Gesichter von Ungeborenen werden dann nicht mehr wie starre Totenmasken erscheinen, sondern eine lebendige Mimik offenbaren. Profitieren dürften vor allem die Herzspezialisten, die dann sogar das Herz der Ungeborenen räumlich betrachten können, das sich für heutige 3-D-Bilder zu schnell bewegt. “Alle grossen Hersteller arbeiten daran”, weiss Peter Weber, der am Fraunhofer Institut für biomedizinische Technik im deutschen St. Ingbert den Prototyp eines 3-D-Apparats für hochwertige Echtzeitaufnahmen entwickelte. Kreisförmige Sensorfelder vermessen in Sekundenbruchteilen den Raum.

Noch ist die Technik viel zu teuer. Doch auch heutige Spitzengeräte – mit einer Option für 3-D-Standbilder – können sich nur Spezialpraxen leisten. Werdende Eltern rennen ihnen dafür die Türen ein. Gleichzeitig bezweifeln viele Ärzte den medizinischen Nutzen. “Eine wichtige Methode droht zur Jahrmarktsattraktion zu verkommen”, warnt Christof Sohn von der Universitätsfrauenklinik in Frankfurt am Main. Die Technik der meisten handelsüblichen Geräte sei noch nicht ausgereift. Geübte Augen sähen auf den räumlich und zeitlich besser aufgelösten 2-D-Bildern mindestens genauso viel wie auf den dreidimensionalen Computerrekonstruktionen.

Dem widersprechen die Daten von Eberhard Merz: Bei den Föten von 2128 Schwangeren mit erhöhtem Risiko wurde in Mainz 804 Mal eine Fehlbildung diagnostiziert. Bei zwei Dritteln davon gelang der Nachweis dank 3-D-Spitzentechnik besser, und 35 Mal “konnten wir diskrete Fehlbildungen sogar nur mit 3-D-Sonografie definitiv erkennen”, sagt Merz.

“Der plastische Chirurg, der eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte operieren soll, kann mit einem Oberflächenbild seinen Eingriff bereits vor der Geburt planen. Oder die Eltern sehen, dass die Spalte möglicherweise nicht so schlimm ist, wie sie im Schnittbild wirkte”, betont Martin Brauer, der seit Jahren an der Berliner Charité mit 3-D-Ultraschall arbeitet. Psychologische Effekte bezeichnet auch 3-D-Pionier Merz als das eigentliche Plus der neuen Technik: “Die Eltern können ihre ungeborenen Kinder endlich mit eigenen Augen sehen.” Ein Genuss, in den bald alle kommen könnten: “In fünf bis zehn Jahren werden auch günstige Apparate Bilder von der Qualität heutiger Spitzengeräte liefern. Dann gehört 3-D zur Routineuntersuchung”, glaubt Merz.

Der Zürcher Sonografie-Experte Zimmermann urteilt zurückhaltend: “Manches wird 3-D verbessern, aber viele Fälle, wo wir heute Probleme haben, werden uns auch in Zukunft Schwierigkeiten machen: etwa, wenn Schwangere wenig Fruchtwasser haben oder ihre Bauchdecke zu dick ist.”
© Peter Spork

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