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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.2015, S. 11
(ungekürzte Fassung; weicht vom gedruckten Text ab)

Lasst sie doch noch etwas schlafen

Unser Schulsystem nimmt auf Jugendliche keine Rücksicht. Die werden morgens nicht so schnell wach und sind abends zu spät müde. Neue Studien sind da eindeutig. Der Unterrichtsbeginn in Mittel- und Oberstufe sollte endlich den biologischen Rhythmen angepasst werden.

Von Peter Spork

Im Januar 2006 machte der damalige Baden-Württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), heute EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Schlagzeilen. Die Schule solle in Zukunft eine „halbe oder ganze Stunde später“ beginnen, forderte er – und erntete weitgehend Unverständnis und Spott. Nur eine Gruppe von Wissenschaftlern applaudierte. Es waren Schlafforscher und Chronobiologen, also Menschen, die erkunden, wie wichtig Schlaf ist und sich mit biologischen Rhythmen wie dem Schlaf-Wach Zyklus beschäftigen.

Diese Experten kannten schon damals zuverlässige Daten, die nahe legten, dass zumindest ältere Schüler, die um acht Uhr oder früher in der Schule sein müssen, „biologisch gesehen mitten in der Nacht unterrichtet werden“, so nahezu wortgleich der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg und der mittlerweile emeritierte Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley.

Seitdem ist die Studienlage immer eindeutiger geworden. „Es besteht kaum noch ein Zweifel, dass sich die Gesundheit, Lernfähigkeit und Leistung der allermeisten Schüler schlagartig verbessern würde, ließe man sie morgens länger schlafen“, sagt Thomas Kantermann, Chronobiologe an der Universität von Groningen, Niederlande.

Mit Kollegen hat Kantermann jetzt eine besonders große und aussagekräftige Studie zum Thema vorgelegt (Journal of Biological Rhythms, Online-Vorabpublikation). Die Forscher baten 741 niederländische Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren, den „Münchner Chronotyp-Fragebogen“ aus der Arbeitsgruppe von Till Roenneberg auszufüllen (www.bioinfo.mpg.de/mctq). Dadurch wusste man genau, ob die Schüler aufgrund ihrer angeborenen biologischen Rhythmik eher in Richtung Frühaufsteher (Lerchen) oder Spätzubettgeher (Eulen) tendieren, wie viel Schlaf sie eigentlich benötigen und wie viel Schlaf sie tatsächlich bekommen.

Wie nicht anders zu erwarten, passte selbst der vergleichsweise moderate Schulbeginn um 8:15 Uhr nicht zu dem biologisch vorgegebenen Schlaf-Wach Zyklus der allermeisten Schüler. Im Durchschnitt schlafen diese ohne äußeren Zwang ungefähr von Mitternacht bis neun Uhr, sagt Kantermann, wobei die älteren Schüler „sogar noch deutlich später ticken“. In der Realität werden die Jugendlichen an Schultagen also in einen nach vorne verlagerten Schlafrhythmus genötigt. Dieser entspricht indes nicht den angeborenen physiologischen Vorgaben ihrer inneren Uhr. „Zwingt man diese Schüler, noch früher schlafen zu gehen, bringt das gar nichts“, sagt Kantermann, „sie schlafen dann einfach noch nicht ein“.

Anstatt des eigentlich benötigten Schlafpensums durchschnittlicher Jugendlicher von neun Stunden, brachten es die Teilnehmer der Studie im Mittel deshalb nur auf sieben Stunden und fünfzig Minuten. Und das an fünf Tagen in der Woche. Unzählige Fachpublikationen aus den vergangenen fünfzehn Jahren belegen jedoch, wie wichtig ausreichender Schlaf gerade für die Gesundheit und Lernfähigkeit von Heranwachsenden ist. So verfestigt das schlafende Gehirn die tags zuvor aufgenommenen Informationen. Und chronischer Schlafmangel beeinträchtigt praktisch alle geistigen Parameter, wie Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit. Es gibt sogar Hinweise, dass permanente Unausgeschlafenheit und ein Leben im falschen Rhythmus das Risiko für das Aufmerksamkeits-Defizit und Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) erhöhen.

„Jede Minute zusätzlicher Schlaf am Morgen“ sei für die Schüler kostbar, bilanziert Kantermann. Und seine neuen Daten unterstreichen das. Die Chronobiologen werteten nämlich auch die Resultate von Klassenarbeiten der befragten Schüler aus. Insgesamt kamen 4.734 Noten in die Statistik. Verglichen wurden die Leistungen der eher eulenhaften Hälfte mit jenen der lerchenhafteren Schüler. Dabei zeigte sich, dass die Spätzubettgeher umso schlechter abschnitten, je früher am Morgen die Klausuren geschrieben wurden. Erst bei Klausurterminen um die Mittagszeit hatte der Chronotyp eines Schülers keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis. Besonders ungerecht geht das System übrigens mit jenen Schülern um, die nur sieben Stunden oder weniger pro Nacht oder besonders spät schlafen – wobei sich diese Faktoren gegenseitig natürlich bedingen.

Warum es die Evolution so eingerichtet hat, dass Menschen ab Einsetzen der Pubertät bis ins frühe Erwachsenenalter abends nicht rechtzeitig müde werden und morgens bis in die Puppen schlafen können, ist unklar. Fest steht jedoch: Dieses biologische Programm existiert – und es läuft den Anforderungen der Erwachsenenwelt zuwider. Doch warum müssen sich die Schüler an die Gesellschaft anpassen, fragt nicht nur Chronobiologe Kantermann: „Die Gesellschaft könnte doch auch Rücksicht auf die Schüler nehmen? Im eigenen Interesse.“ In der Schulpolitik werde doch auch sonst permanent über Verbesserungen aller Art diskutiert.

Niemand kann es jedenfalls befürworten, dass derzeit praktisch alle älteren Schüler für ihre inneren Uhren viel zu früh und noch dazu völlig unausgeschlafen aufstehen. Bis zum Schulbeginn werden die wenigsten von ihnen richtig wach und gerade diejenigen, die biologisch besonders spät ticken, versemmeln ihre Prüfungen mit der größten Wahrscheinlichkeit. Denn zusätzlich zum Schlafmangel werden sie auch noch Stunden vor ihrem geistigen Leistungshoch gefordert.

Kantermann und Kollegen folgern aus ihren Zahlen, man solle allein schon aus Gerechtigkeitsgründen ernsthaft über einen späteren Schulbeginn nachdenken. Außerdem solle man „Klausuren nur noch am frühen Nachmittag ansetzen, um die Diskriminierung der späten Chronotypen zu verhindern und allen Schülern gleiche akademische Möglichkeiten zu eröffnen“. Beide Ideen versucht sein Team derzeit an zwei niederländischen Schulen, in denen die Daten gesammelt wurden, umzusetzen. Auch mit Schulen in Bad Kissingen ist Kantermann im Gespräch. Der süddeutsche Kurort hat sich vergangenes Jahr zur „Chronocity“ ernannt. Er möchte vermehrt auf die innere Rhythmik seiner Bevölkerung Rücksicht nehmen.

Sollten die Pilotprojekte Erfolg haben, lassen sich womöglich immer mehr Schulen von den Ideen überzeugen. Der Heidelberger Pädagogik-Professor Christoph Randler sorgte schon vor fast zehn Jahren für Aufsehen, als er den Chronotyp von 132 Studenten erfragte und in Beziehung zu deren früheren Schulnoten setzte. Das damals noch erstaunliche Resultat: Je eulenhafter die Studenten, desto schlechter war ihr Abitur gewesen. Seine Daten belegten keinesfalls, dass Frühaufsteher intelligenter oder fleißiger seien als Spätzubettgeher, kommentierte Randler. Sie zeigten nur, „dass diese jungen Leute das Glück hatten, in jenen Stunden des Tages herausgefordert zu werden, in denen sie munter waren“.

Auch die Erfahrungen aus so unterschiedlichen Ländern wie Jamaica, Tansania, Chile, Island, Malaysia, Griechenland und Kroatien passen ins Bild. Sie gehören zu jenen Staaten, die wegen eines Mangels an Lehrern oder Schulen zumindest für eine gewisse Zeit ein Zweischichtsystem beim Schulunterricht eingeführt haben. Die eine Hälfte der Schüler wurde oder wird von acht bis vierzehn Uhr unterrichtet, die andere von vierzehn bis zwanzig Uhr. Jede Woche wird gewechselt.

In Kroatien hat Adrijana Košćec aus Zagreb mit Kollegen das Schlafverhalten der Schulkinder systematisch untersucht und positives festgestellt: „Das rotierende Zweischicht-Schulsystem bei kroatischen Jugendlichen hat vorteilhafte Auswirkungen auf deren Schlafdauer.“ Die Schüler schlafen auf diesem Weg in zwei Wochen an neun Tagen aus. Ihre Schlafenszeit liegt an Wochenenden und wenn sie Nachmittagsunterricht haben bei knapp unter neun Stunden. An den fünf Tagen mit Vormittagsunterricht sinkt sie auf knapp sieben. Das ist sehr niedrig, und es wundert nicht, dass die Kinder in dieser Zeit tagsüber schläfriger sind als sonst und auch etwas mehr zu depressiven Verstimmungen neigen.

Die St. George‘s High School in Middletown, Rhode Island, USA, hat schon längst auf solche Hinweise reagiert. Sie verschob den Schulbeginn ab Klasse neun für drei Monate von acht Uhr auf halb neun und vermeldete im Jahr 2010, unterstützt von Wissenschaftlern um Kinderärztin Judith Owens aus Providence, USA, Erfolge: Hatte vorher nur ein Sechstel der 201 untersuchten Teenager mindestens acht Stunden pro Nacht geschlafen, war es nun über die Hälfte. Außerdem erwiesen sich die Schüler als aufmerksamer, sie gingen seltener zum Schularzt und waren weniger trübsinnig. Eine Mehrheit der Schüler und Lehrer forderte daraufhin mit Erfolg den permanenten späteren Schulbeginn.

Im Sommer 2014 schloss sich sogar der Verband der US-amerikanischen Kinderärzte an, und verlangte, die Schule dürfe für Kinder im Alter ab zehn Jahren grundsätzlich nicht vor 8:30 Uhr beginnen.

Die größten politischen Veränderungen löste bislang eine Schweizer Studie aus. Der Basler Psychologe Sakari Lemola befragte im Jahr 2013 mit Kollegen 2.716 Jugendliche nach ihren Schlafgewohnheiten und Schulanfangszeiten. Jene, die weniger als acht Stunden schliefen, zeigten in der Schule schlechtere Leistungen, äußerten eine negativere Lebenseinstellung und litten tagsüber vermehrt unter Müdigkeit.

Das spannendste Ergebnis brachte indes der Blick auf den Schulanfang. 343 Schüler mussten erst um acht Uhr in der Schule sein, der Rest bereits um 7:40 Uhr. Diese zwanzig Minuten späterer Schulbeginn machten sich klar bemerkbar: Im Mittel schliefen die Schüler, die später anfangen mussten, pro Nacht eine Viertelstunde länger als die anderen. Und sie fühlten sich während des Unterrichts deutlich wacher und aufmerksamer.

Diese Analyse zeigt klar, dass die Jugendlichen noch Schlaf benötigten. Und sie konterkariert das Argument vieler Eltern und Pädagogen, die Schüler würden abends ja nur noch später zu Bett gehen, wenn man sie morgens länger schlafen ließe. Im Kanton Basel-Stadt beginnen nun noch mehr Schulen erst um acht Uhr. Und die Stadt Bern plant ein Pilotprojekt, bei dem Schüler ab der 7. Klasse nicht vor der zweiten Schulstunde unterrichtet werden sollen.

Manche deutsche Eltern und Schüler würden solche vergleichsweise zurückhaltenden Maßnahmen bereits als paradiesisch empfinden. Wie groß ihr Leidensdruck ist, unterstreichen nicht nur die vielen überquellenden Diskussionsforen zum Thema im Internet. Auch der Autor dieses Artikels erhält regelmäßig E-Mails von Betroffenen, die unterstreichen, wie wenig sich die Erkenntnisse der Biologie bislang bei den Entscheidungsträgern etwa in den zahlreichen Schulkonferenzen des Landes herumgesprochen haben.

„Zum Beispiel beginnt ab Klassenstufe neun der Unterricht für unsere Kinder fast täglich 7:10 Uhr“, schreibt eine Mutter aus einer ostdeutschen Kleinstadt. Ihre Kinder müssen dann schon um 6:20 Uhr im Bus sitzen. Nur zum Vergleich: Die neue Studie aus Groningen besagt, dass durchschnittliche Jugendliche die Mitte ihres biologischen Schlafprogramms erst gegen halb fünf erreichen. Danach benötigen sie noch viereinhalb Stunden Schlaf – bis um neun.

Schade eigentlich, dass uns die Zukunft so wenig wert ist, möchte man hier kommentieren. Denn was sind die Schüler sonst – wenn nicht unsere Zukunft?
© Peter Spork

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